Anmerkungen zu Le Sinaï

Nr. 7 Moïse et Aaron (Manuskript Schmitts)
Nr. 7 Moïse et Aaron (Manuskript Schmitts)

Le Sinaï beruht auf der biblischen Geschichte von der Ankunft des Volkes Israel am Berge Sinai (II. Buch Moses). Moses schließt einen ewigen Bund mit Gott und erhält von ihm die Gesetzestafeln. Die Erwählung als Volk Gottes ist an die unbedingte Unterwerfung unter den Willen des Einen Gottes und die Einhaltung des ersten Gebots geknüpft: Du sollst keine fremden Götter neben mir haben. Doch das Volk ist noch nicht reif dafür, diesen unsichtbaren Gott anzunehmen, und wendet sich einem sinnlich erfahrbaren Götzen in Gestalt des Goldenen Kalbs zu. Der Treuebruch Israels und der Zorn Gottes werden in opernartigen Szenen ausführlich dargestellt. Daneben stehen reflektierende Chöre in der Tradition geistlicher Musik, die den Hörer zu religiöser Identifikation  einladen.

Die instrumentale Introduction beginnt mit einem ruhigen, von Streichern geprägten Moderato: Dabei erklingt ein religiös-andächtiger Gesang, der wie eine „unendliche Melodie“ die Grundstimmung des ganzen Satzes vorgibt. Ein kurzer, erregter Zwischenabschnitt, der einen Aufbruch anzukündigen scheint, mündet in das hymnische Hauptthema (avec enthousiasme). Es wird jäh unterbrochen von finsteren, drohenden Blechbläsereinwürfen. Diesen antwortet eine ätherische Harfen-Episode, die eine dramaturgisch zentrale Stelle des Oratoriums vorwegnimmt: das „Pardon“ (Nr. 10), die Begnadigung des Volkes durch Gott. – Soweit die Exposition der sonatenartig angelegten Introduction. Diese enthält in knapper Form bereits die Handlung des ganzen Oratoriums: den sündigen Abfall von Gott und dessen gütige Verzeihung. Der religiös-andächtige Gesang, dessen Grundstimmung weiterhin den Satz prägt, lässt sich deuten als Verheißung: einerseits der Wonnen des „Gelobten Landes“ (für das Volk Israel), andererseits des Paradieses (für den sich identifizierenden Gläubigen). Das Aufgehoben-Sein in der Güte Gottes durch alle Anfechtungen hindurch wird jedoch mittels eines weiteren kompositorischen Kunstgriffs symbolisiert: Alle im Charakter so gegensätzlichen Themen leiten sich motivisch aus dem frommen Anfangsgesang her. –  Was Georges Schmitt hier gemacht hat, ist nichts weniger als eine strukturelle Übertragung des theologischen Gehalts in Musik.

Erster Teil

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Nr. 1 Moïse appelé sur la montagne sainte

Nr. 1 Moses’ Berufung zum heiligen Berg. Es erklingen Motive, die im Verlaufe des Oratoriums leitmotivisch immer wiederkehren: vor allem eine durch vier Töne ab- und aufsteigende Figur, die in mancherlei Varianten die erzählenden Teile des „Israeliten“ grundiert. Als Bassmotiv begleitet sie hier auch die Stimme Gottes, der sich in einer Art Sprechgesang vernehmen lässt, wobei das Leitmotiv der majestätischen Blechbläserakkorde seinen Worten Nachdruck verleihen. Moses trifft Vorkehrungen für seine Abwesenheit. In einem fast zu leichtfertig klingenden Chor bekennt sich das Volk Israel zu Gott.

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Nr. 2 Air (Klavierauszug)

Nr. 2 Arie und Chor. Ein Engel fordert das Volk in einem enthusiastischen Gesang zum Lobpreis Gottes auf: Der marschartige Refrain ist einer der zündenden Einfälle Schmitts, der deutlich von der Grand Opéra beeinflusst ist. Davon mitgerissen antwortet das Volk ebenfalls in begeisterndem Tonfall.

Nr. 3 Verheißungen und Drohungen Gottes. Dem an eine mehrteilige Opernszene erinnernden Stück liegt wieder das Leitmotiv des Erzählers, die ab- und aufsteigende Quarte zugrunde. Zunächst beschreibt der Engel in begeisterndem Gesang die Offenbarung der Glorie Gottes über dem Berge Sinai. Der Erzähler leitet über zu den Verheißungen Gottes. Dieser wendet sich in einer Art Sprechgesang an das Volk, von den Posaunenklängen nachdrücklich bekräftigt; das Volk wiederholt die Verheißungen. Am Ende der Rede erklingt – unbegleitet – das stolze Signum Gottes: EGO SUM QUI SUM. Der Erzähler leitet zu dem zweiten Teil der Verkündigungen über, der von den Drohungen handelt. Diesmal ist es der Mund des Engels, aus dem Gott spricht. In einem arienartigen Gesang verheißt der Engel schließlich noch einmal all denjenigen Gottes Gnade, die seinen Gesetzen gehorchen. Ein drittes Mal tritt der Erzähler hervor und das Volk bekräftigt abschließend noch einmal seinen Vorsatz, dem Willen Gottes zu folgen.

Zweiter Teil

Nr. 4. Der zweite Teil des Oratoriums beginnt mit zwei kurzen Orchesterstücken. Dumpf brütende Bässe bestimmen das Klangbild des ersten: die Verschwörung des Volks (Symphonie). In den irrlichternden Holzbläservorschlägen und Pizzicati der Streicher meint man das helle Klimpern des Goldes, aus dem das Götzenbild gefertigt wird, zu vernehmen. Eine „romantische“, fast zu süßliche Violoncello-Kantilene versinnbildlicht das Falsche des Handelns. – Der Satz geht unmittelbar in den nächsten Teil über, den Tanz ums Goldene Kalb (Symphonie). Er ist ein Scherzo in Moll, ein wilder, diabolischer Tanz mit verstörenden Synkopen und überraschenden Modulationen; die Holzbläser-Vorschläge werden später wieder aufgegriffen und erklingen nun auch in den „orgiastischen“ Hörnern. Am Ende mündet das Ganze in einen bombastischen, ganz und gar falschen, weil „unpassenden“ Dur-Schluss.

Nr. 5 Die Revolte. Dieser im Zentrum des Werks stehende Chor besteht aus zwei unterschiedlichen Teilen. Im ersten schreit das durch die Abwesenheit von Moses verunsicherte Volk in rhythmisch gemeißelter Deklamation nach einem fasslichen Gott. Im zweiten Teil erklingt auf die Worte „Er ist es, dessen Allmacht uns gerettet hat vor den Pharaonen“ eine große Fuge, die einzige des ganzen Werks. Die altehrwürdige Form der Fuge ist in der Tradition der geistlichen Chormusik stets ein Symbol des Gottvertrauens und der Glaubensstärke. Hier jedoch wird in Pervertierung dieser Tradition nicht der wahre, eine Gott gepriesen, sondern ein heidnischer Götze.

Nr. 6 Duett Gott – Moses. Der Israelit führt, begleitet vom Erzählmotiv, in die Handlung ein, auch die Rede Gottes, die wieder in einem ariosen Sprechgesang gestaltet ist, wird von Varianten dieses Leitmotivs begleitet. Moses versucht, Gott in einer opernartigen Arie von der Bestrafung des Volks abzubringen – vergeblich. In der Reprise der Arie verbinden sich beide Stimmen im Duett: Moses wiederholt seine Belcanto-Melodie, der Part Gottes bleibt als zweite Stimme auch hier wieder in einer rezitativisch-ariosen Diktion; Schmitt vermeidet auf diese Weise einen fragwürdigen Auftritt Gottes als Belcantobass.

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Nr. 7 (Klavierauszug)

Nr. 7 Duett Moses und Aaron. Dramatischer Höhepunkt des Oratoriums ist die Auseinandersetzung zwischen den beiden Brüdern. Das umfangreiche und mehrteilige Duett ist im flüssigen Stil einer Opernszene geschrieben, in der die Musik realistisch und wirkungsvoll auf die dramatischen Akzente der Reden eingeht: Den heftigen Anklagen von Moses antworten die kläglichen Rechtfertigungsversuche Aarons (die „beiseite“ gesprochenen Worte „Der Feigling, ah!“ verweisen deutlich auf die Bühne). Die Reue Aarons stimmt Moses schließlich um und beide Brüder vereinigen ihre Stimmen zu einem Duett, in dem sie Gott um Vergebung bitten.

Dritter Teil

Nr. 8 Präludium (Andante sostenuto). Das Orchesterstück wird eröffnet durch eine einstimmig intonierte, an Gregorianischen Choral erinnernde Streicherlinie. Ihr wird eine weit ausgreifende, romantische Melodie gegenübergestellt. Im Mittelteil des Stücks dominieren die Bläser. Zunächst erklingt ein zuversichtlicher Gesang im Hörnersatz; ihm folgt eine klagende Weise in den hohen Holzbläsern. Später melden sich die majestätischen Posaunenakkorde, die bereits mehrfach von der Allmacht Gottes kündeten. Bei der Wiederkehr des Hörnergesangs grundieren Pizzicati der Streicher den Satz – vielleicht eine Reminiszenz an die Verschwörung des Volks (Nr. 4).

Nr. 9. Das kurze, betont schlichte Gebet wird von Moses angestimmt und vom Volk einstimmig wiederholt. Seine besondere Wirkung erhält es durch die ganz unbegleiteten Vokalstimmen.

Nr. 10 L’Invocation
Nr. 10 L’Invocation

Nr. 10 Flehen und Vergebung. Moses bittet den Herrn um Vergebung; die kurzen Einwürfe des Chors („Erbarmen“) schwellen an zu inbrünstigem Flehen. Schließlich verkündet der Engel die Vergebung, von lichten Harfenakkorden umschwebt und in der hell glänzenden Tonart Cis-Dur. Diese bereits in der Introduktion vorweggenommene Vergebungsmelodie wird vom Chor aufgegriffen und zu einem zuversichtlichen Ende geführt.

Nr. 11 Anbetung. Das mehrteilige Stück wird eingeleitet durch ein schwebendes Flötensolo – ein lyrischer Ruhepunkt in der gespannten Grundstimmung. In die eingängige Melodie des Dankgesangs („Dank sei dem Herrn“) mischen sich die Stimmen des Engels, Moses’ und des Volkes. Refrainartig stimmen alle immer wieder das kindlich-schlichte „Der Herr ist größer als alle anderen Götter“ an, das schließlich zu einer mächtigen Steigerung geführt wird. – In einer Coda, die aus dem auf- und absteigenden Quart-Leitmotiv gestaltet ist, erinnert Moses noch einmal an die Vergebung des Herrn und fordert alle auf, ihm in einem „frommen Konzert“ zu huldigen.

Nr. 12 Symphonie. Diese Aufforderung erfüllt das kurze, festlich bewegte Orchesterintermezzo. Im Zentrum des Stücks scheint die Musik in ätherische Höhen zu entschweben, bevor sie zu einer mächtigen Schlusssteigerung ausholt.

Nr. 13 Schlusschor. Der kurze Satz ist eine Rekapitulation der „Anbetung“. Er beginnt majestätisch mit der Anrufung des Herrn („Seigneur!“). Darauf kehrt das eingängige „Dank sei dem Herrn“ aus Nr. 11 wieder. In der Gewissheit der ewigen Herrschaft des Herrn schließt das Oratorium in jubelndem C-Dur.

Le Sinaï – eine „dramatische Symphonie“

Le Sinaï besitzt neben den opernhaft-dramatischen Merkmalen auch solche einer (Chor-)Symphonie. Darauf weist schon der Untertitel des Werks hin: Symphonie dramatique – eine Gattung, die ihren Ausgangspunkt in Hector Berlioz’ Roméo et Juliette (1839) hatte und im damaligen Frankreich gepflegt wurde. (Ihre ältesten Wurzeln reichen noch weiter zurück, nämlich auf Beethovens Neunte Symphonie, dem Prototyp der Chorsymphonie.)

Die Introduction (C-Dur) in Schmitts Sinaï entspricht dem Ersten Satz der klassischen Symphonieform, bestehend aus der ruhigen Einleitung (Moderato) und dem schnelleren Hauptteil in Sonatenform. Dem „hymnischen Hauptthema“ steht als Seitenthema das „Erlösungsthema“ (in Cis-Dur) gegenüber, mit dem, wie erwähnt, das Le Pardon (Nr. 11) vorweggenommen wird. – Die Sätze zu Beginn des zweiten Teils, vor allem der Tanz ums goldene Kalb, entsprechen dem Scherzo der klassischen Symphonie, das auch an zweiter Stelle in der Reihenfolge der Sätze stehen konnte (z. B. in Beethovens Neunter Symphonie). – Das Präludium zum dritten Teil steht für den langsamen Satz der Symphonie, der hier, wie üblich, in dreiteiliger Liedform (ABA-Form) gestaltet ist. – Der Schluss des dritten Teils entspricht dem „Finalsatz“ und folgt dabei demonstrativ dem Vorbild von Beethovens Neunter Symphonie, die in ihrem Finalsatz Instrumental- und Vokalteile verbindet. Bei Schmitt wird der instrumentale Teil (Nr. 12: „Symphonie“) von zwei vokalen Teilen (Nr. 11 und 13) umrahmt, die durch die gleiche Melodie verbunden sind: Die Nummern 11 bis 13 bilden demnach als Ganzes das vokal-instrumentale „Finale“ der Symphonie.