Luxemburger Wort vom 10. Dez. 2015 – Feuilletonbeilage „Die Warte“
Der französische Wagnérisme zwischen 1870 und 1914 mag in Richard Wagners Heimatland Verwunderung auslösen, gilt der Komponist hier doch als entschieden „deutscher“ Komponist. Doch gerade im Frankreich des Fin de Siècle war man von seinen Bühnenwerken fasziniert. Ab 1890 bis zum Weltkrieg avancierte Wagner sogar zu einem der meistgespielten Komponisten auf französischen Opernbühnen. Man rezipierte aber auch seine Kunsttheorien, was erstaunlicherweise dazu führte, dass die damalige Avantgarde in Paris wohl umfassender durch Wagner geprägt war als in Deutschland.
Die „Faszination Wagner“ erfasste in Frankreich nicht nur Musiker, sondern auch Maler wie Paul Cézanne und Paul Gauguin; Poeten und Literaten wie Charles Baudelaire, Jules Champfleury, Théophile Gautier, Catulle Mendès. Der Einfluss von Wagners Leitmotivtechnik oder der „unendlichen Melodie“ wird spürbar in der Poesie der Symbolisten Paul Verlaine und Stephane Mallarmé oder in der Erzähltechnik des „Bewusstseinsstroms“ bei Marcel Proust.
Der Wagnérisme rief allerdings auch Widerstand hervor, der sowohl ästhetisch als auch politisch motiviert war. Bemerkenswert ist der Zeitpunkt der Wagner-Begeisterung nur wenige Jahre nach Frankreichs Niederlage im Französisch-Deutschen Krieg von 1870/71. In dessen Umfeld hatte der zeitlebens politisch agierende Wagner sich zudem mit antifranzösischen Äußerungen exponiert und vor allem mit dem Lustspiel „Eine Kapitulation“, einer Satire auf den Pariser Kulturbetrieb, patriotische Gefühle verletzt. Die offizielle französische Kulturpolitik war daher begreiflicherweise anti-wagnerisch und generell antideutsch ausgerichtet. Um den als übermächtig wahrgenommenen Einfluss der deutschen Instrumentalmusik, Symphonik wie Kammermusik, zurückzudrängen, förderte die junge Troisième République gezielt eine „Ars gallica“, eine originär französische Musik.
Begünstigt wurde der Wagnérisme allerdings auf dem Gebiet der Oper durch ein in Paris selbst entstandenes Unbehagen an der vorherrschenden Opernästhetik, insbesondere der althergebrachten Nummernoper. Die auf eine moderne Form des Musikdramas abzielenden Theorien Wagners fielen bei einer kosmopolitisch denkenden, intellektuellen Elite auf fruchtbaren Boden, zumal die Diskussion über das Gesamtkunstwerk durch einen schon vor Wagner geführten Diskurs vorbereitet war. Auch galt das Interesse des Fin de siècle nicht dem „martialischen“, sondern dem „subtilen“ Wagner und eher den Motiven der Décadence in seinem Werk.
Tannhäuser in Paris 1861
Auslöser des Wagnérisme war Wagners Paris-Aufenthalt der Jahre 1860/61 mit der Aufführung seines Tannhäusers – der Begriff Wagnérisme kam erst 1872 auf. Anders als bei seinem ersten Aufenthalt als junger Kapellmeister in den Jahren 1839 bis 1842 war Wagner nun kein Unbekannter mehr. Der Ruf seiner romantischen Opern, Der fliegende Holländer(1841), Tannhäuser (1843) und Lohengrin (1850), war bis nach Frankreich gedrungen. Die Partitur von Tristan und Isolde war soeben im Druck erschienen; komponiert waren auch schon die Musikdramen Das Rheingold, Die Walküre und die ersten beiden Siegfried-Akte. In seinen 1849 und 1851 erschienenen Schriften Das Kunstwerk der Zukunft und Oper und Drama hatte Wagner seine Ideen eines Gesamtkunstwerks dargelegt, in dem Musik, Sprache und Bühnenrealisation eine unauflösliche Verbindung eingehen. Nun, auf dem Zenit seines Schaffens, beabsichtigte er, seine Werke und Ideen in der europäischen Kunstkapitale Paris persönlich vorzustellen. (Übrigens hatte auch Giuseppe Verdi mit Les vêpres siciliennes dem Pariser Publikum seine Aufwartung gemacht: Das Werk wurde 1855 an der Pariser Opéra aufgeführt; ein zweites würde 1867 mit Don Carlo folgen.)
Die Pariser Musikwelt brachte Wagner reges Interesse entgegen – die stetige Neugier auf exzeptionelle kulturelle Leistungen von jenseits der Grenzen gehört zu den respektablen Eigenschaften der französischen Kulturnation. Er wurde nach seiner Ankunft von der Opernlegende Rossini empfangen; der Journalist Mendès sowie die Dichter Gautier und Baudelaire suchten ihn im Hotel auf. Zu Wagners „Mittwochs-Salon“ kamen Komponisten wie Gounod, Saint-Saëns und Reyer sowie Literaten und Maler. Zu Anfang des Jahres 1860 fanden im Théâtre-Italien drei große Konzerte mit Ausschnitten aus den romantischen Opern Wagners und dem Tristan statt. Um das Verständnis zu erleichtern, hatte Wagner eine französische Prosaübersetzung der Textbücher herausgegeben und als Vorwort die programmatische Abhandlung Lettre sur la musique (dt. Titel: Zukunftsmusik) verfasst. Im Publikum saßen zahlreiche Komponisten, darunter Auber, Berlioz, Gounod, Halévy, Meyerbeer, Ambroise Thomas und Reyer. Die Reaktionen auf das Konzert waren jedoch – wie zu erwarten – zwiespältig, ja sogar dramatisch: Man registrierte im Foyer des Théâtre-Italien„Raserei, Schreie, Diskussionen, die immer in Tätlichkeiten auszuarten drohten“.
Etwa ein Jahr nach seiner Ankunft, im März 1861, fanden in der Opéra (damals im Salle Le Peletier) die drei Tannhäuser-Aufführungen statt, die als Tannhäuser-Skandal in die Annalen eingingen. Die Produktion erfolgte auf persönliche Anordnung Napoléons III. und wurde gefördert durch die österreichische Botschaft – die Frau des Botschafters, Fürstin Pauline von Metternich, war mit der Gattin des Kaisers, Eugénie, befreundet. Das war für nationalistisch gesinnte Kreise Grund genug, die Intrige einer „deutsch-österreichischen Clique“ zu wittern. Empört war man auch über die hohen Kosten des Unternehmens, die durch die von Wagner geforderten unzähligen Proben entstanden – sie erstreckten sich über ein halbes Jahr und wurden von Wagner persönlich überwacht. Dann missachtete Wagner auch noch das ungeschriebene Gesetz der grand opéra, ein Ballett an den Beginn des zweiten Teils zu setzen (das Verdi übrigens respektierte). Die Herren im Publikum waren es nämlich gewohnt, sich an einem Ballett zu delektieren, wenn sie aus der Pause kamen. Wagner hatte zwar – um den Erwartungen des Pariser Publikums entgegenzukommen – den I. Akt umgearbeitet („Pariser Fassung“) und eigens das Bacchanal als eine Art „Ballett“ eingefügt, er machte aber den unverzeihlichen Fehler, diese Szene nicht im II. Akt zu platzieren. Das war für den chauvinistischen Jockey-Club Anlass, die Aufführungen durch den ohrenbetäubenden Lärm von Trillerpfeifen zu stören. Ein weiterer Grund für das Misslingen der Aufführung mag in dem der Pariser Gedankenwelt fremden Thematik des Tannhäuser, dem Dualismus von hoher und niederer Minne, zu suchen sein.
Die Schlacht um das Werk setzte sich in den Feuilletons in unverminderter Härte fort. Als einer der härtesten Gegner tat sich der Kritiker und Musikologe François-Joseph Fétis hervor. Berlioz missbilligte ebenfalls in einem Artikel die „musique de l’avenir“ (Zukunftsmusik). Aber Wagner hatte auch glühende Verehrer. Zu ihnen zählte Baudelaire (1821-1867), der Dichter der Fleurs du Mal, der im Anschluss an die Tannhäuser-Aufführungen eine Studie unter dem Titel Richard Wagner et Tannhäuser à Paris veröffentlichte. Er war fasziniert von Wagners Genie und in der Leidenschaftlichkeit, dem Rauschhaften von Wagners Musik erkannte er wohl etwas seiner eigenen Kunst Verwandtes. Er begrüßte die Verbindung der Künste im Gesamtkunstwerk und die Überwindung der traditionellen Oper mit ihren auf einen festen Formenkanon zurechtgestutzten Libretti, die jedem vernünftigen Geist Qualen bereiteten («des tortures infligées à tout esprit raisonnable»). Wagner sei nicht nur Musiker, sondern ebenso ein Dichter – doch auch das Umgekehrte sei richtig: «Sans poésie, la musique de Wagner serait encore une œuvre poétique, étant douée de toutes les qualités qui constituent une poésie bien faite». In einer Nachschrift bringt Baudelaire nachdrücklich seine Scham über das einer Kulturnation unwürdige Verhalten des Pariser Publikums in den Tannhäuser-Aufführungen zum Ausdruck.
Der Kunst Wagners regelrecht verfallen war die Schriftstellerin Judith Gautier (1845-1917). Nach dem Besuch einer Lohengrin-Aufführung 1868 in Baden-Baden bezeichnet sie Wagner in einem Artikel als «le plus grand génie musical de notre époque». Sie besuchte Wagner 1869 später in Tribschen und noch einmal 1876 bei den ersten Festspielen in Bayreuth, wo sich eine „Romanze“ zwischen der 31-jährigen und dem bereits 63-jährigen Meister entspann.
Hochblüte des Wagnérisme nach 1871
Nach der Zäsur von 1870/71 lief die Wagner-Rezeption in Frankreich zunächst nur zögerlich an. Bei den ersten Wagner-Festspielen in Bayreuth (1876) zählte man nur wenige prominente französische Musiker: Saint-Saëns, Vincent d’Indy, Charles-Marie Widor und Augusta Holmès. Bei den zweiten Festspielen (1882), die ganz im Zeichen des Parsifal standen, waren unter den Gästen unter anderem Ernest Chausson, Gabriel Fauré, André Messager und Léo Delibes. In den achtziger und neunziger Jahren schwoll die Pèlerinage nach Bayreuth an – übrigens auch die von französischen Nicht-Musikern und Touristen, die von dem „romantischen“ Deutschland angezogen wurden. 1886 sah Jules Massenet das Bühnenweihfestspiel, 1888 und 1889 besuchte Claude Debussy die Festspiele und war vor allem durch den Parsifal tief beeindruckt. Auch wenn seine Haltung gegenüber Wagner später in eine Art Hassliebe umschlug, zollte er diesem Werk stets seinen Respekt.
In Paris spielten ab 1873 Jules Pasdeloup und ab 1881 Charles Lamoureux in ihren Konzerten Ausschnitte aus Wagners Werken, allerdings ohne Gesang; das Publikum konnte seine Musik also wieder hören, ohne ins Ausland reisen zu müssen. Neben den Konzertsälen wurde auch der Salon zur Säule der Wagner-Pflege. Auf Ablehnung stießen aber weiterhin Theater-Aufführungen ganzer Opern. Als in den Jahren 1882/83 Angelo Neumanns „Reisendes Wagner-Theater“ den Ring des Nibelungen in 22 europäische Städte brachte, ging die Produktion an Paris vorbei. Die erste Wagner-Oper in Paris, Lohengrin 1887 im Eden-Theater, konnte nur unter Polizei-Schutz stattfinden; bei der zweiten von 1891 im Palais Garnier gab es, wie 30 Jahre zuvor beim Tannhäuser, Tumulte im Saal. Im Verlauf der 90er Jahre (nach der Entlassung Bismarcks im Reich) entspannte sich das Verhältnis allmählich und die Zahl der Wagner-Aufführungen stieg deutlich an. Jedoch lag Paris bei Wagner-Opern immer noch weit hinter dem übrigen Europa (und New York). Und am Conservatoire de Paris durfte Wagner offiziell erst unter der Ägide von Gabriel Fauré (ab 1905) studiert werden.
Der Druck von Seiten der Politik und der nationalistischen Presse hielt viele Künstler jedoch nicht davon ab, sich mit Wagners Kunst produktiv auseinanderzusetzen. Das Jahr 1885 brachte mit dem Erscheinen der Revue wagnérienneeinen Höhepunkt des elitären Wagnérisme. Die Zeitschrift war in den drei Jahrgängen bis 1888 Organ der Wagner-Gemeinde und Diskussionsforum. Sie ist jedoch überwiegend dem literarischen Wagnérisme zuzuordnen, denn Autoren waren meist Poeten und Literaten und weniger Musiksachverständige. Sie informierte zwar über das Werk Wagners, seine Theorien und über Aufführungen, doch konvergierten die diskutierten Thesen oft nur vage mit seiner Ästhetik. Der schöngeistig-literarische Charakter der Gazette offenbart sich beispielsweise in einem Essay Mallarmés mit dem bezeichnenden Titel «Richard Wagner, rêverie d’un poète français». Die Zeitschrift veröffentlichte auch Gedichte, die Wagner und seinem Werk huldigten, darunter solche von namhaften Dichtern wie Verlaine, Mallarmé und René Ghil. Mallarmés Sonett Hommage à Wagner ist mit seinen kühnen Wortmontagen und „komponierten“ Lautkombinationen allerdings weniger vordergründige Huldigung als symbolistisch-poetische Resonanz auf Wagners Klangwelten.
Stéphane Mallarmé: Hommage à Wagner
Le silence déjà funèbre d’une moire
Dispose plus qu’un pli seul sur le mobilier
Que doit un tassement du principal pilier
Précipiter avec le manque de mémoire.
Notre si vieil ébat triomphal du grimoire,
Hiéroglyphes dont s’exalte le millier
A propager de l’aile un frisson familier !
Enfouissez-le moi plutôt dans une armoire.
Du souriant fracas originel haï
Entre elles de clartés maîtresses a jailli
Jusque vers un parvis né pour leur simulacre,
Trompettes-tout haut d’or pâmé sur les vélins,
Le dieu Richard Wagner irradiant un sacre
Mal tû par l’encre même en sanglots sibyllins.
Zunehmend popularisierte sich der Wagnerkult: Wer sich zur Musik, Literatur und bildenden Kunst äußern wollte, kam an Wagner kaum noch vorbei und musste sich mit Blick auf den Wagnérisme positionieren – pro oder contra. Dabei verkam der Name Wagners nicht selten zu einer bloßen Chiffre für Fortschritt oder Freiheit der Kunst.
Ein jähes Ende fand der Wagnérisme mit dem Beginn des I. Weltkriegs. Der Faden der ernsthaften Rezeption Wagners durch französische Literaten riss aber auch nach dem Weltkrieg nicht völlig ab. Paul Claudel, der eine tiefe und vielfältige Beziehung zu Wagner hatte, nahm, an Mallarmés Text anknüpfend, den Faden in seinem dialogischen Essay «Richard Wagner, rêverie d’un poète français » (um 1927) wieder auf.
Musikdrama aus französischem Geist
Der Einfluss Wagners zeigte sich natürlich vor allem auf dem Gebiet der Musik. Man studierte die Partituren und Klavierauszüge der Opern, spielte sie in den Salons und im Kreis von Kollegen. Emmanuel Chabrier und Debussy kannten den Tristan so gut, dass sie ihn auswendig auf dem Klavier vortragen konnten. Wichtig für die Vermittlung der Magie der Musikdramen aber war die Pèlerinage nach Bayreuth, wo man den Klang der Musik authentisch erleben konnte. Vor allem die Aufführungen des Parsifal, der damals nur in Bayreuth aufgeführt werden durfte, wurden als eine Quelle spiritueller Erfahrung beschrieben. Saint-Saëns, Fauré, Duparc, Chausson, Massenet und andere Komponisten bekannten, wie begeistert, ja überwältigt sie waren; d’Indy und Chabrier schämten sich nicht, über ihre Tränen zu berichten.
Doch welchen Einfluss hatten diese Erfahrungen auf die Kompositionen? Die Bezeichnung „style wagnérien“ zur Charakterisierung von Kompositionen benutzten sowohl Rezensenten als auch Komponisten, doch ist das Wagnerische analytisch oft schwer zu konkretisieren. Traditionen des französischen drame lyrique konvergierten teilweise mit Wagners Musiksprache – beispielsweise bei Massenet –, ohne dass die Wurzeln klar zu trennen wären. Auch bemächtigte man sich der Errungenschaften des Bayreuther Meisters auf eine freie, oft willkürliche Weise. Die kompositorischen Merkmale der Musikdramen – Leitmotivik, „unendliche Melodie“, „Kunst des Übergangs“, Harmonik, Verhältnis von Orchester und Singstimme – treten selten in toto, sondern meist nur partiell auf. Vincent d’Indy bewunderte Wagners Leitmotivik und Instrumentationskunst, der Einfluss der Harmonik ist dagegen schwächer.
Andere Komponisten entzogen sich bewusst dem Einfluss Wagners wie César Franck, der nach dem Tod von Berlioz (1869) als Kopf der Anti-Wagnerianer galt. Er pflegte seine Schüler angeblich vor dem „Gift des Tristan“ zu warnen und soll auf seinen Tristan-Klavierauszug das Wort „Gift“ geschrieben haben. Doch galt seine Orgelklasse am Conservatoire paradoxerweise als „un rempart des défenseurs de Wagner“. Aber auch bei Franck selbst klingt die Chromatik seiner späten Werke oft unverkennbar nach Tristan.
Der Wagnérisme zeigt sich auch in der Wahl von mythischen oder märchenhaft-mittelalterlichen Stoffen. Auch Franck mochte sich diesem Trend nicht entziehen: seine „nordische“ Oper Hulda (1879-85) spielt im frühmittelalterlichen Norwegen. Nirgendwo ist die Nähe aber wohl größer als in der bis ins 20. Jahrhundert hinein im Salle Garnier oft gespielten Oper Sigurd (1884) von Ernest Reyer, die sich stofflich auf das Nibelungenlied bezieht und sich teilweise mit dem Ring berührt. Die Oper Le Roi Arthus (1903) von Ernest Chausson enthält einen inhaltlichen Bezug auf die Tristan-Sage. In Jules Massenets Esclarmonde (1889) wird Lohengrins Frageverbot umgekehrt und von der zauberischen Titelheldin ihrem Geliebten Roland auferlegt. Le Roi d’Ys (1888) von Emanuel Chabrier und Fervaal(1897) von Vincent d’Indy spielen in einer keltischen Welt, dem französischen Pendant zu Wagners germanischem Milieu. D’Indys L’Étranger (1903) ist ein in die Zeit um 1900 versetzter Fliegender Holländer mit Momenten von Legende und Realismus.
Der freie Umgang französischer Komponisten mit Wagner bedeutet, dass selbst Opern mit wagnerschen Stoffen keineswegs die durchkomponierte Form des Musikdramas oder Wagners symphonische Musiksprache aufgreifen. Le Roi d’Ys beispielsweise ist eine traditionelle Nummernoper mit dominierender Gesangsmelodik. Fervaal enthält stilistisch Disparates: die Welt des Schönen und die positiven Gefühle werden in einer eher traditionellen Musiksprache, dramatische Szenen sowie Empfindungen wie Hass und Schmerz dagegen in einem Wagner nahestehenden chromatischen Stil vertont. In Esclarmonde von Massenets ist der Orchestersatz zwar nicht symphonisch (im Sinne Wagners) und die Melodie der Singstimme dominiert eindeutig den Satz, doch war der Komponist stolz darauf, dass es ihm gelungen war, handlungsrelevante Leitmotive wie bei Wagner durch Variation den wechselnden Situationen anzupassen.
Generell strebte man danach, Wagner nicht einfach nachzuahmen, was ohnehin vergebliche Mühe sein dürfte, sondern ein „wagnersches Musikdrama aus französischem Geist“ zu schaffen, in dem sich Form und Musiksprache der französischen Oper mit Stilmomenten Wagners verbinden. Wem gelang das wohl eindrucksvoller als Claude Debussy in seinem Drame lyrique Pelléas et Mélisande (1902)? Trotz des unverkennbar debussyschen Tons ist auch hier der Wagner-Bezug unüberhörbar. Und dies gilt nicht nur für das Parsifal-Zitat im I. Pelléas-Akt, das sich auf die Verwandlungsmusik des I. Parsifal-Aktes („Du siehst, mein Sohn, zum Raum wird hier die Zeit“) bezieht, sondern auch für die zahlreichen Tristan-Allusionen. Debussys (letztlich vergeblicher) Kampf mit Wagner zeigt eine Anekdote aus der Zeit seiner Arbeit am Pelléas. In einem Moment, in dem er glaubte, ganz bei sich zu sein, bemerkte er plötzlich, wie „das Phantom des alten Klingsor, alias Richard Wagner, hinter der Biegung eines Taktes auftauchte, so dass ich alles zerrissen habe.“
Albéric Magnard dagegen bekennt sich im Vorwort zu seiner Oper Bérénice (1911) unumwunden zum Gebrauch des „style wagnérien“, weil dieser am besten seinen dramatischen Vorstellungen entspräche. In ähnlicher Weise rechtfertigt Fauré den Gebrauch von Leitmotiven in seiner Oper Pénélope (1913) damit, dass es nichts Besseres gäbe [„C’est le système wagnérien; mais il n’y en a pas de meilleur“]. Dennoch finden beide zu einem eigenständigen Umgang mit dem Vorbild Wagner. Bei Fauré bestimmen die Leitmotive den Verlauf der Handlung weit weniger stark als bei Wagner und im symphonischen Satz prägen sich geschlossene musikalische Abschnitte aus, ohne dabei auf das Gleis der überwundenen Nummernoper zu geraten. Darüber hinaus sind die Singstimmen sehr gesanglich gestaltet und besitzen den charakteristischen Tonfall von Faurés späten Liedern.
Einen amüsanten Weg der Auseinandersetzung mit der übermächtigen Vaterfigur beschritt Fauré gemeinsam mit dem Bayreuth-Besucher und Wagner-Bewunderer André Messager: den der Parodie. In ihrem Klavierstück Souvenirs de Bayreuth. Fantaisie en forme de Quadrille werden die „beliebtesten Themen“ des Ring durch Hineinpressen in kurze Tanzformen banalisiert. Ähnlich verfuhr auch Debussy in seinem jazznahen Klavierstück Golliwogg’s Cakewalk (aus Childrens Corner, 1913), in das der Tristan-Akkord parodistisch hineinmontiert wurde.
Bereits zur Jahrhundertwende zeichnete sich die allmähliche Lösung vom Einfluss Wagners ab – die wachsenden Spannungen vor dem I. Weltkrieg blieben nicht ohne Auswirkung auf die kulturellen Beziehungen. Chausson schrieb den programmatischen Satz „il faut déwagneriser!“. Verstärkt zeigte sich die Abkehr während des grande guerre, so bei Saint-Saëns oder Debussy, der sich stolz als musicien français bezeichnete. Nach dem Krieg kam es dann zu einem radikalen Traditionsbruch: Namentlich die Groupe des Six (mit Arthur Honegger, Darius Milhaud, Francis Poulenc u.a.) lehnte sowohl den spätromantischen Wagner als auch den impressionistischen Debussy ab und wandte sich dem Jazz und der Unterhaltungsmusik sowie insbesondere der klassischen und barocken Musik zu (Neoklassizismus, Neobarock).
Das Verhältnis zu Wagner „normalisierte“ sich wieder nach dem II. Weltkrieg – dies aber auf spektakuläre Weise. Es waren zwei Franzosen, die der Wagner-Interpretation neue Wege wiesen: Patrice Chéreau und Pierre Boulez, der Regisseur und der Dirigent des Bayreuther „Jahrhundert-Rings“ von 1976.
Professor Dr. Wolfgang Grandjean ist Mitglied des „Richard-Wagner-Verbandes Trier–Luxembourg“. Der Verband plant für 2017 eine Veranstaltungsreihe zum Thema „Wagnérisme“. Vorgesehen ist unter anderem ein Konzert in der Luxemburger Philharmonie mit Werken von Wagner und Debussy. Ein gemeinsamer Chor aus beiden Städten wird daran beteiligt sein.