Mein Wohltemperiertes

„Mein Wohltemperiertes. 24 Fugen nebst Intermezzi“

Jaeger_1_kMein Wohltemperiertes: Intermezzo IX

Jaeger_2Mein Wohltemperiertes: Fuge A-Dur

Das Intermezzo IX enthält einen dreifachen Bezug: auf Dimitri Schostakowitsch, auf  J. S. Bach und auf die folgende Fuge in A-Dur. Erstens persifliert es Schostakowitschs Präludium Nr.7 aus „24 Präludien und Fugen“ (op.87) durch Pointierung seines Stils; Schostakowitschs Stück seinerseits bezieht sich auf Bachs Präludium Nr.6, d-Moll, aus dem „Wohltemperierten Klavier I“; und drittens bereitet es das Thema der A-Dur-Fuge vor. – Jägermeiers Fuge ist im Übrigen ein Paradestück der Themenengführungen.

Intermezzo IX, gespielt von Thomas Günther, Essen

Fuge A-Dur

Die Fugen sind zumeist datiert und im Zeitraum zwischen [18]90 und [18]96 entstanden. Die frühesten reichen also bis in die Studienzeit bei Ludwig Thuille in München zurück. (Bei den Datierungen stellt sich heraus, dass die biographischen Angaben im Riemann-Lexikon [Personenteil, Ergänzungsband A-K, Mainz 1986, S. 578] zu korrigieren sind: Die Datierung auf der Mappe verrät, dass Jägermeiers Aufenthalt in Leipzig schon für 1897 und nicht erst für 1898 zu belegen ist.) – Die Intermezzi dürften einige Jahre später als die Fugen entstanden sein.

Die Fugen sind ein beeindruckendes Zeugnis der Auseinandersetzung mit dem Erbe Johann Sebastian Bachs. Jägermeier steht hierbei in einer Linie mit zahlreichen Komponisten des 18. und 19. Jahrhunderts – erinnert sei an die unter dem Einfluss des Thomaskantors entstandenen Fugen Mozarts, Mendelssohns und Schumanns. Seine Arbeiten brauchen den Vergleich mit anderen Bach-Adepten keineswegs zu scheuen, wie bereits die oben vorgestellte A-Dur-Fuge zeigt.

Die stilistische Nähe der Fugen zu Bach zeigt sich in vielen technischen Details: der melodischen Diktion, der modulatorischen Disposition und in der für Bachs Stil eigentümlichen Behandlung der Dissonanzen. Die Cis-Moll-Fuge zitiert sogar das Thema von Bachs gleichnamiger Fuge aus dem I. Teil des Wohltemperierten Klaviers als cantus firmus. Die Topoi der Bach-Zeit zeigen sich in der Struktur der Themen und Fugencharakteren wie „Fuga antica“, „Fuga chromatica“ oder Tanztypen wie Gigue- und Menuett-Fuge. Ein Schuss Ironie steckt in der Bezeichnung „Fuga scholastica“: sie weist alle Merkmale einer perfekten Schulfuge auf. – Einige Fugen entfernen sich jedoch auch vom Vorbild Bach. Bei der „Fuga“ C-Dur weist der Untertitel „in stilo [stile] antico“ darauf hin, dass sie sich dem puristischen Ideal des „Palestrina-Kontrapunkts“ verschrieben hat. Die Fuge in H-Dur dagegen ist von einem Vorgefühl auf den romantischen Satz durchdrungen.

Die Fugen beruhen durchweg auf einer strengen Formkonstruktion. Eine wichtige Rolle spielt dabei der „Goldene Schnitt“, auf den im Manuskript mit der Bezeichnung „Sectio aurea“ hingewiesen wird. Engführungen von Themen treten so häufig auf, dass man schon von einer Vorliebe Jägermeiers sprechen kann. Auch Themen-Umkehrungen begegnen häufig und werden formkonstitutiv eingesetzt. – Auch die Sammlung als Ganze ist von Proportionen und „Zahlen“ bestimmt: Zwölf Fugen sind 3-stimmig, zwölf 4-stimmig. Sechs Fugen haben eine Inversion oder Augmentation des Themas. Drei Fugen sind Doppelfugen (mit zwei Themen), eine (die letzte) ist eine Tripelfuge  (mit drei Themen) und zugleich eine Permutationsfuge.

Am Anfang der Sammlung steht ein Präludium (C-Dur), das den Anfang des allbekannten ersten Stücks aus Bachs „Wohltemperiertem“ zitiert, aber schon bald durch eingeschmuggelte Zwischentöne romantisch verfremdet wird. Gegen Ende verändert es radikal seinen Charakter und bereitet den Palestrina-Stil (und konkret das Thema) der anschließenden C-Dur-Fuge vor, bevor es ganz am Schluss wieder zu Bachs Präludium zurückkehrt.

Präludium C-Dur

Fuge C-Dur

Dur- und Moll-Fugen über demselben Grundton werden jeweils zu einem Paar gebündelt. Zwischen den Paaren stehen insgesamt 11 Intermezzi, die motivisch zwischen den Fugen vermitteln und teils raffinierte modulatorische Übergänge schaffen. Ein Teil dieser Intermezzi sind Originalkompositionen Jägermeiers, in denen er sich jedoch maskiert und im Gewand von Georg Friedrich Händel oder in Robert Schumanns poetischen Figuren Florestan und Eusebius auftritt. Der andere Teil beruht auf Präludien aus fremden Fugenwerken, die allerdings zum Zwecke der modulatorischen Überleitung oft stark verändert wurden. Sie stammen aus dem Wohltemperierten Klavier von J. S. Bach, den Präludien und Fugen op. 35 von Felix Mendelssohn Bartholdy, dem Ludus tonalis von Paul Hindemith, den 24 Präludien und Fugen von Dimitri Schostakowitsch sowie den 24 Préludes von Frédéric Chopin. Die spielerischen Intermezzi bilden einen wirkungsvollen Kontrast zu den strengen Fugen.

Das Werk wurde von Thomas Günther, Essen, auf CD eingespielt (Studioproduktion der Folkwang-Hochschule Essen).

Zu erwerben unter: info[at]wolfgang-grandjean.de.

Analytische Anmerkungen zu den Fugen.