in: Luxemburger Wort, Beilage „Die Warte“, 19. Januar 2017
Claude Debussys Saint Sébastien ist einem breiteren Publikum kaum bekannt. Grund dafür sind die ausufernden Imaginationen und geschraubten Verse des Dichters Gabriele d’Annunzio, die eine szenische Aufführung erschweren. Die grandiose und berührende Musik Debussys verdient jedoch unsere Aufmerksamkeit: Zu hören ist sie am 28. Januar 2017 in der Philharmonie Luxemburg – zusammen mit einem Ausschnitt aus Richard Wagners Parsifal. Die Kombination beider Werke ist von besonderem Reiz, denn von jeher konstatierte man eine gewisse Nähe zwischen ihnen. Ein Zeitgenosse Debussys bezeichnete den Martyre sogar als „Debussys Parsifal“.
D’Annunzios monumentales fünfaktiges „Mystère“ wurde am 22. Mai 1911 im Pariser Théâtre du Châtelet mit exorbitantem Aufwand in Szene gesetzt und löste ein fulminantes, aber zwiespältiges Presseecho aus. Die Vermischung von Christlichem, Heidnischem und Erotik wurde von vielen als Provokation empfunden.
Das Châtelet war in jenen Jahren ein Ort denkwürdiger Avantgarde-Veranstaltungen, darunter die epochalen Aufführungen der Ballets russes Sergej Djagilews (Diaghileff) und des Tänzers Nijinsky. Im selben Jahr wie der Martyre kam dort auch das Ballett Petruschka von Igor Strawinsky heraus und 1917 wurde das Stück Parade von Eric Satie und Jean Cocteau mit Kostümen und Bühnenbildern von Pablo Picasso uraufgeführt.
Der Titelheld des Mysterienspiels, der heilige Sebastian von Emesa (Homs in Syrien), Kommandant der Bogenschützen des Kaisers Diocletian, verweigert sich dem heidnischen Kult und geht dafür in den Tod. Man bindet ihn an einen Baum und seine Kameraden schießen auf seinen Leib. Das Motiv des von Pfeilen durchbohrten Sebastian beschäftigte die religiöse Kunst durch Jahrhunderte, sowohl die Plastik als auch die Malerei vor allem der Renaissance (Botticelli, Sodoma, Mantegna, Perugino). Künstlerische Motivation für manche der erotischen Darstellungen war die Schönheit des Jünglings. Die Verletzungen des makellosen Körpers und die über den Schmerz triumphierende Entrückung des Heiligen verleihen den Bildern ihre besondere Spannung.
Der Sebastian-Mythos belebt bis heute die Kunstszene. Besucher der Luxemburger Philharmonie erinnern sich vielleicht noch an die Performance „Bogenübung“ von Georg Nussbaumer während des Festivals rainy days im November 2015, in der ein von Abbildungen Sebastians umrahmter Violoncello-Corpus von Pfeilen durchschossen und zerstört wurde.
D’Annunzio (1863-1938), der 1910 in Paris Zuflucht vor seinen Gläubigern gefunden hatte, war von der Heiligenlegende wie von den Renaissance-Bildern fasziniert. Der Dichter der Décadence, Verehrer von Nietzsche, Nationalist und späterer Anhänger des Faschismus, schuf ein durch das mittelalterliche Genre inspiriertes „Mysterienspiel“, gesehen durch die Brille des zeitgenössischen symbolistischen Theaters. Steht in Wagners Musikdrama Parsifal eine ethische Botschaft, die Erlösung der Menschheit durch Mitleid, im Zentrum, so geht es in d’Annunzios Mystère vorrangig um ein virtuoses Spiel mit interkulturellen Bezüge und Anspielungen auf die antike Mythologie. Die Leidensgeschichte Sebastians vermischt sich mit derjenigen von Christus; wie dieser ruft er aus: „Mon âme est triste justqu’à la mort“. Zugleich wird die Heiligenlegende mit dem antiken Kult des Adonis von Byblos (Syrien) verknüpft: Der Märtyrer und der schöne griechischen Halbgott verschmelzen in der Szene des Trauerzugs nach Sebastians Tod zu einer Person.
Als weiteres (vielleicht verstörendstes) Moment des Martyre kommt das des Androgynen hinzu. Es ist bereits im antiken Adoniskult enthalten, tritt auch in manchen Renaissance-Darstellungen des Sebastian unverkennbar hervor (siehe Abb. 1) und war ein Motiv der Décadence im Fin de siècle. Man findet es auch in dem Roman Istar (1888) von Joséphin Péladan (Sâr Péladan), in dem auch eine dem Sebastian ähnliche weibliche Figur auftaucht. Der Dichter war von der Kunst Richard Wagners, insbesondere vom Parsifal, fasziniert. Im Jahre 1892 ließ er in Paris den esoterischen Orden der Rosenkreuzer unter dem Namen Ordre de la Rose-Croix Catholique et esthétique du Temple et du Graal wieder aufleben, dem Debussy nahe stand. Die schöne „Sainte Sebaste“ in Péladans Roman ist im Frontispiz des Buchs dargestellt als eine Frau mit gefesselten Händen vor einer Stele – ein Werk des dem Symbolismus nahestehenden Malers Fernand Khnopff (s. Abb.2).
D’Annunzio begegnete in Paris der für die Realisierung des Werks entscheidenden Persönlichkeit: Ida Rubinstein (1885-1960), Russin aus wohlhabender jüdischer Familie und eine schillernde Figur der Kunstszene. Sie trat als Tänzerin, Schauspielerin und Choreographin auf und wird beschrieben als groß, schlank und von androgyner Erscheinung. In ihr fand d’Annunzio die ideale Darstellerin seines Sébastien. Für die Produktion gründete sie eigens eine Tanzkompanie und zog den berühmten Choreographen Michail Fokin (Fokine) hinzu; Bühnenbild, Kostüme und Plakate verfertigte der Maler Léon Bakst – beide waren auch für Djagilews Ballets Russes tätig.
Ida Rubinstein erwarb sich übrigens nicht nur Verdienste als Mäzenin des Martyre, sondern vergab später auch Ballett-Aufträge an Ravel (Boléro, 1928; La Valse, 1929), Strawinsky (Le baiser de la fée, 1928; Perséphoné, 1933), Arthur Honegger (Jeanne d’Arc au bûcher, 1930) und andere.
Das symbolistische Mystère d’Annunzios bedurfte zwingend der überhöhenden und transzendierenden Macht der Musik – und wer war da als Komponist geeigneter als der „Meister des Impressionismus“, Claude Debussy? Dieser war sofort entflammt für den Stoff „mit seiner Mischung aus lautem, prallen Leben und christlichem Glauben“, in dem „der Kult des Adonis sich mit dem von Jesus verbindet“. Innerhalb kürzester Zeit, von Januar bis April, komponierte er in Zusammenarbeit mit dem Komponisten André Caplet insgesamt 17 Nummern von circa 50 Minuten Dauer. So entstand ein szenisches Gesamtkunstwerk, in dem Dichtung, Musik, Tanz und bildende Kunst miteinander verflochten sind und Schauspieler, Tänzer und Sänger eng zusammenwirken. Wie die Presse übereinstimmend lobte, fand Debussy in seiner Komposition zu einer neuen, aus dem Geist des Werks geborenen und überaus wirkungsvollen Musiksprache, in der man – wie erwähnt – auch Anklänge an den Parsifal zu vernehmen glaubte.
Einige Tage vor der Premiere verbot der Pariser Erzbischof den Gläubigen den Besuch der Aufführung. Die Vermischung der Heiligenlegende mit dem erotischen Adoniskult und die Darstellung des Heiligen durch eine Frau wurden als Beleidigung des „christlichen Bewusstseins“ angesehen. D’Annunzio und sein Komponist suchten den Dialog mit der Kirche und beteuerten, „que cette œuvre, profondément religieuse, est la glorification lyrique non seulement de l’Athlète admirable du Christ mais de tout l’héroisme chretien“. Und Debussy versicherte in einem Interview, dass er die Musik so geschrieben habe, als ob sie ihm für eine Kirche aufgetragen worden wäre.
Trotz der üppigen Ausstattung wurde das weitschweifige Schauspiel schon bald nach der Uraufführung wieder abgesetzt. Man versuchte das Werk durch eine (von Germaine Inghelbrecht arrangierte und von d’Annunzio und Debussy gebilligte) Oratorien-Fassung zu retten. Der Schauspieltext entfällt dabei fast völlig und die 17 Musikstücke werden durch Textpassagen so verbunden, dass der Inhalt notdürftig erkennbar bleibt.
In dieser Form wird Debussys Werk auch am 28. Januar 2017, 20:00 Uhr, in der Philharmonie Luxemburg zu hören sein – zusammen mit dem I. Akt Parsifal von R. Wagner; dazu um 19:15 eine Einführung mit dem Titel: „Le Martyre de Saint Sébastien – Debussys Parsifal?“
Prof. Dr. Wolfgang Grandjean