Bühnenweihfestspiel und symbolistisches Mysterienspiel (Programmtext)

Programmheft: Festkonzert zum 30-jährigen Jubiläum des Richard Wagner Verbandes Trier/Luxemburg am 28. Januar 2017 in der Philharmonie Luxemburg

Richard Wagners Parsifal und Claude Debussys Le Martyre de Saint Sébastien – beide Werke scheinen auf den ersten Blick wenig gemeinsam zu haben: Zu unterschiedlich sind die nationalen Traditionen, in denen sie stehen. Doch wiesen bereits unmittelbar nach der Uraufführung des Martyre einige Rezensenten auf Verbindungen zwischen beiden Werken hin. Und der Debussy-Biograph Émile Vuillermoz sprach sogar davon, dass Debussy „mit dem Martyre seinen Parsifal geschrieben“ habe.

Das Bühnenweihfestspiel Parsifal entstand ab 1877 und wurde am 26. Juli 1882 im Festspielhaus von Bayreuth uraufgeführt. Die erste Beschäftigung Wagners mit dem Parzival-Epos Wolfram von Eschenbachs bzw. der Gralssage reicht jedoch schon bis auf das Jahr 1845 zurück. Der Plan zum Musikdrama reifte in mehreren Etappen heran, wobei Wagner den entscheidenden Impuls durch die Auseinandersetzung mit der Philosophie Schopenhauers empfing, insbesondere der darin vermittelten buddhistischen Geisteswelt und der „Mitleidsethik“. Das Epos Eschenbachs wird letztendlich reduziert auf eine narrative Hülle für Wagners ethische Botschaft: Erlösung und Regeneration der Menschheit durch Mitleid, wobei der „reine Tor“ Parsifal zum Vermittler dieser Botschaft wird. Problematisch ist die Übertragung einer religiösen Handlung wie die Gralsenthüllung auf eine Theaterbühne. Wagner rechtfertigte sie in seiner 1880 publizierten Abhandlung Religion und Kunst damit, dass in einer Zeit, in der Religion künstlich geworden sei, nur noch die Kunst den Kern der Religion retten könne, indem sie deren mythische Symbole „ihrem sinnbildlichen Werte nach erfasst, um durch ideale Darstellung derselben die in ihnen verborgene tiefe Wahrheit erkennen zu lassen.“

Abb.: Paul von Joukowsky: Gralstempel; Bühnenbild der Parsifal-UA, 1882

Auf christliche Quellen geht auch Gabriele d’Annunzios „Mystère“ Le Martyre de Saint Sébastien zurück: Es beruht auf einer Legende, die von der Glaubensstärke des Protagonisten, des heiligen Sebastian von Emesa in Syrien, kündet. Dieser, Kommandant der Bogenschützen des Kaisers Diocletian, verweigert sich dem heidnischen Kult und muss daher sterben. Man bindet ihn an einen Baum und seine Kameraden schießen mit Pfeilen auf seinen Leib. – Das Motiv des durchbohrten Sebastian inspirierte die religiöse Kunst durch Jahrhunderte hindurch, u. z. sowohl die Plastik, als auch die Malerei (Sodoma, Mantegna, da Messina, Perugino). Die Darstellung der körperlichen Schönheit des Jünglings, die sich nicht selten in den erotischen Darstellungen des Heiligen manifestierte, bildete einen Teil der künstlerischen Motivation.

In der Philharmonie Luxemburg konnten Besucher des Festivals für zeitgenössische Musik „rainy days“ im November 2015 eine Transformation des mythischen Geschehens „bewundern“: Bei der Performance „Bogenübung“ von Georg Nussbaumer war ein von Sebastian-Bildnissen eingerahmtes Violoncello als Symbol des menschlichen Körpers Ziel der Attacken eines Bogenschützen.

Inspiriert vom Genre der mittelalterlichen Mysterienspiele entfaltet d’Annunzio ein dramaturgisch virtuoses Bühnenstück, in dem interkulturelle Bezügen und Anspielungen auf die antike Mythologie die Handlung symbolistisch verfremden. Die Leidensgeschichte Sebastians vermischt sich dabei mit der von Christus und dem Adoniskult. Als weiteres, verstörendes Moment kam das des Androgynen hinzu, das allerdings bereits im Adoniskult wie auch in manchen Sebastian-Gemälden der Renaissance unübersehbar enthalten ist.

Gemälde Perugino-Schule
Schule von Pietro Perugino: Hl. Sebastian

Das fünf Akte umfassende Mystère d’Annunzios war ohne Musik kaum denkbar – und was lag näher, als dafür den „Meister des Impressionismus“, Claude Debussy, heranzuziehen? Seine Komposition entstand innerhalb kürzester Zeit: zwischen Januar und Mai 1911. Allerdings hat Debussy nur das kurze V. Bild vollständig vertont; von den umfangreicheren Bildern I bis IV wurden jeweils nur der Anfang (Prélude), ein Stück aus der Mitte der Handlung und der Schluss (Finale) komponiert. Insgesamt entstanden 17 Nummern von ca. 50 Minuten Spieldauer. Wird in Wagners Parsifal das Ritterepos in die konsequente Form des dreiaktigen musikalischen Dramas gefasst, so ist der Martyre im Ergebnis ein locker gefügtes szenisches „Gesamtkunstwerk“, in dem Dichtung, Musik, Tanz sowie bildende Kunst miteinander verflochten sind und Schauspieler, Tänzer und Sänger eng zusammenwirken.

Die fast fünf Stunden dauernde Uraufführung des Mystère fand am 22. Mai im Pariser Théâtre du Châtelet statt. Einige Tage vor der Premiere verbot der Pariser Erzbischof den Gläubigen den Besuch der Aufführung. Die Vermischung der Heiligenlegende mit dem erotischen Adoniskult sowie die Darstellung des Heiligen durch die (jüdische) Tänzerin Ida Rubinstein wurden als Beleidigung des „christlichen Bewusstseins“ angesehen. D’Annunzio suchte den Dialog mit der Kirche und beteuerte, dass das Werk als Glorifizierung des christlichen Heroismus zu verstehen sei. Und Debussy versicherte, dass er die Musik so geschrieben habe, als ob sie ihm für eine Kirche aufgetragen worden wäre.

Trotz aufwendiger Inszenierung wurde das Stück schon bald nach der Uraufführung wieder abgesetzt – es war zu weitschweifig, die Verse zu schwülstig. Man versuchte es daher durch eine (von d’Annunzio und Debussy gebilligte) Oratorien-Fassung zu retten: Der Schauspieltext entfällt dabei weitgehend und die 17 Musikstücke werden durch Textpassagen so verbunden, dass die Handlung notdürftig erkennbar bleibt. – In dieser Form, allerdings ohne die verbindenden Texte, wird das Werk heute zu hören sein.

Prof. Dr. Wolfgang Grandjean