Bruckner

1. Bruckner: Sämtliche Werke – I. Symphonie (frühe Fassung)

Anton Bruckners erste gültige Symphonie (zwei frühe Werke wurden nicht gezählt) entstand 1865/66 in Linz. 25 Jahre später (1890/91) entschloss er sich in Wien zu einer Umarbeitung der Symphonie (Wiener Fassung), bei der er Errungenschaften seines Spätstils auf das Frühwerk übertrug. Der sogenannten Linzer Fassung von 1865/66 ging in den beiden Mittelsätzen eine Frühfassung voraus. Diese beiden Mittelsätze wurden von mir 1994 in der Bruckner-Gesamtausgabe herausgegeben:

Anton Bruckner: Sämtliche Werke, zu Bd. I/1, I. Symphonie c-Moll, 2. Satz (ursprüngliche Fassung), 3. Satz (ältere Komposition), hrsg. von Wolfgang Grandjean (Musikwissenschaftlicher Verlag), Wien 1995

Die „ursprüngliche Fassung“ des zweiten Satzes (Adagio, f-Moll, 4/4-Takt) ist von Interesse, da sie ein anderes formales Konzept als die Linzer Fassung verfolgt. Während der Satz in der Linzer Fassung eine dreiteilige Form mit kontrastierendem Mittelteil (Andante, ¾-Takt) aufweist, war der Satz ursprünglich ein Sonatensatz, bestehend aus einer Exposition mit drei Themen und einer Durchführung. In seinen ersten drei Symphonien, der „Schulsymphonie in f-Moll“ (1863), der „Nullten“ in d-Moll (1869?) und der Ersten in c-Moll experimentierte Bruckner mit diesen unterschiedlichen Formmodellen, ehe er in der Zweiten Symphonie in c-Moll (1872) ein Modell fand, das er fortan beibehielt. Diesen Findungsprozess habe ich in einem Aufsatz dargelegt und versucht, die kompositorischen Überlegungen Bruckners bei diesem Prozess zu verdeutlichen:

„Konzeptionen des langsamen Satzes. Zum Adagio von Anton Bruckners Erster Symphonie“, in: Bruckner-Jahrbuch 1991/92/93, Linz 1995, 13-24.

Der 3. Satz (Scherzo) ist – anders als der 2. Satz – eine völlig eigenständige Komposition, lediglich das Trio wurde von der früheren in die endgültige Fassung übernommen. Dabei gingen allerdings übergreifende Motivbeziehungen zwischen den Teilsätzen verloren. Auch hier sehen wir Bruckner wieder in einer Experimentierphase. Während das Scherzo der älteren Komposition (Presto, g-moll) noch mehr dem Scherzo der Wiener Klassik ähnelt – entspricht das der Linzer Fassung (Schnell, g-moll) dem Modell, das Bruckner fortan seinen Symphonien zugrunde legte.
Mit der Entwicklung der Scherzo-Form in den frühen Symphonien befasst sich die Studie:

„Anton Bruckners frühe Scherzi“, in: Bruckner-Jahrbuch 1994/95/96, Linz 1997, S. 47-66

2. Aufführungspartitur der frühen Fassungen des 2. und 3. Satzes der I. Symphonie

Das in der GA abgedruckte ursprüngliche Adagio ist unvollendet geblieben. Es bricht im II. Thema der Reprise ab – und zwar in Takt 154, der dem Takt 146 der Linzer Fassung entspricht. Um die nicht nur unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten interessante Konzeption der ursprünglichen Fassung aufführbar zu machen, habe ich eine Aufführungspartitur samt Orchestermaterial erstellt. Dabei wurden fehlende Stimmen und der Schluss aus einer frühen Niederschrift der Linzer Fassung übernommen; lediglich ein Übergang von 2 Takten musste von mir ganz neu ergänzt werden. Eine Aufführung der I. Symphonie Bruckners mit der ursprünglichen Fassung des Adagios und der älteren Komposition des Scherzos fand 1997 in der Folkwang-Hochschule Essen mit dem Hochschulorchester unter Leitung von Jacques Houtmann statt. Partitur und Aufführungsmaterial sind 1997 im Verlag Doblinger Wien erschienen und dort zu entleihen:

Anton Bruckner: I. Symphonie c-Moll, Aufführungspartitur des 2. Satzes (ursprüngliche Fassung) und 3. Satzes (ältere Komposition), ergänzt von Wolfgang Grandjean, Wien (Doblinger) 1997

3. Weitere wissenschaftliche Arbeiten zu Bruckner

Metrik und Form. Zahlen in den Symphonien von Anton Bruckner (Publikationen des Instituts für österreichische Musikdokumentation, hrsg. von Günter Brosche, Bd. 25), Tutzing 2001 (285 Seiten)

Inhalt:

I. Teil Systematische und historische Grundlagen von Bruckners Metrik (S. 17)

  1. Theorie der Metrik (19)
  2. Der Begriff „metrische Ziffer“ im Bruckner-Schrifttum (24)
  3. Wandel in Bedeutung und Gebrauch der metrischen Ziffern bei Bruckner (28)
  4. Bruckners Rezeption der Metrik-Theorien seiner Zeit (40):
    Frühe Studien – Simon Sechters Lehre von Takt und Metrum – Die Kompositionslehren von Richter, Lobe und Marx im Unterricht Otto Kitzlers – Bedeutung der Lehrbücher für Bruckners Verständnis von Metrik und Syntax.
  5. Bruckner als Theoretiker der Metrik (78):
    Rhythmus, Metrum, Syntax und Form in Bruckners Lehrtätigkeit – Metrische Studien an Werken Beethovens und anderer Komponisten.

II. Teil Aspekte der Metrik – am Werk betrachtet (101)

  1. Das Schwer-leicht-Pendel als metrische Grundlage (103):
    Bruckners metrische Theorie, aus seinen Ziffern erschlossen – „Takt im Kleinen“ und „Takt im Großen“ als symmetrisches System.
  2. Metrik der Schlußbildungen (120):
    Satzschlüsse in den Symphonien Bruckners – Systematik der Abschlußgestaltung in der „Romantischen Symphonie“.
  3. Achttaktigkeit als Periodennorm (131):
    Gruppenumfänge im symphonischen Werk – Syntaktische Irregularität im symphonischen Frühstil und in der Reifezeit – Syntaktische Prinzipien der Perioden und Periodengruppen am Beispiel der Vierten Symphonie – Achttaktigkeit als latentes Gerüst in der Fünften Symphonie – Großgruppen im Spätwerk – Exkurs: Zur syntaktischen Norm bei Brahms und Schubert.
  4. Melodische und harmonische Syntax (161):
    Melodisch und harmonisch dominierte Musik – „Klangflächen“ und „Tonartenfelder“, Verknüpfungsprinzipien im Scherzo der Siebenten Symphonie – „Gemischte“ Metrik: der Kopfsatz der Neunten Symphonie.
  5. Metrische Ziffern in Vokalwerken (180):
    Textstruktur und musikalische Metrik in Liedvertonungen – am Beispiel „Du bist wie eine Blume“ – Textbedingte und autonom musikalische Metrik in den kleinen Kirchenmusikwerken – Achttaktige Periodennorm in „Helgoland“, Bedeutung der Skizzen für das Verständnis der metrischen Ziffern.

III. Teil Form und Metrik im Spiegel der Zahlen: Bruckners Sechste Symphonie (201)

  1. Metrik und Expressivität (203): Formdiagramme der Sätze – I. Satz (Majestoso) – II. Satz: Adagio – III. Satz: Scherzo – IV. Finale.
  2. Architektur und Proportionszahlen (261)
    Resümee (275)

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Bruckners kompositorisches Denken war in den handwerklichen Momenten stark der Lehre Simon Sechters verpflichtet. Sechters Theorie der Metrik, die zugleich eine Theorie der Harmonik ist, hatte er verinnerlicht und – in modifizierter Weise – auf seine Kompositionen angewandt:

„Harmonik und Metrik – Simon Sechters ‚Gesetze des Taktes’“, in: Musiktheorie, 13. Jg. (1998), Heft 2, S.157-177

Einen Blick in Bruckners Lehrzeit erlauben die Studienbücher, die während des sechs Jahre andauernden Unterrichts bei Simon Sechter entstanden sind. Das letzte Studienbuch von 1860/61, das Bruckners Kontrapunktstudien – Kanon und Fuge – enthält, hat eminente Bedeutung für sein Œuvre. Es ist darüber hinaus eine biographisch wichtige Quelle und erlaubt einen Blick auf die musiktheoretische Didaktik des 19. Jahrhunderts:

„Bruckners Studienbuch 1860/61 der Santini-Bibliothek in Münster/Westfalen als biographisches und musiktheoretisches Dokument“ in: Bruckner-Jahrbuch 2001-2005, Wien 2006, S. 303-331

Ein wenig beachtetes Spätwerk Bruckners, der „symphonische Chor“ Helgoland (1893), ist Gegenstand einer Studie, die insbesondere die engen Verbindungen zu den benachbarten Spätwerken, wie der IX. Symphonie, aufzeigt und auch Bruckners Begriff des Symphonischen beleuchtet:

„Anton Bruckners ‚Helgoland’ und das Symphonische“, in: Die Musikforschung 48 (1995), 349-368.