César Franck und der Wagnérisme

Vortrag zur Mitgliederversammlung des „Richard Wagner Verbands Trier-Luxemburg“ am
29. April 2023 in Verbindung mit einer Probe des „Trierer Konzertchors

Vorbemerkung: César Francks Geburtstag jährte sich 2022 zum 200. Mal. Das war für den Trierer Konzertchor der Anlass, seine Karfreitags-Kantate Les sept dernières paroles du Christ en croix aufzuführen und ich wurde gebeten, ein paar Gedanken zu dem Komponisten Franck und seinem Werk beizusteuern. Von Seiten des Richard Wagner Verbands bestand ein Interesse daran, etwas über das bisher wenig bekannte Verhältnis des französischen Komponisten zu Wagner zu erfahren. So kam denn beides zusammen in meinem Thema: César Franck und der Wagnérisme. (Über den Wagnérisme und Claude Debussy habe ich 2017 im Zusammenhang mit der Aufführung von Claude Debussys Le Martyre de Saint-Sébastien gesprochen, eine Gemeinschaftsproduktion von Trierer Konzertchor und Richard Wagner Verband Trier-Luxemburg.)

1. César Franck erhält als Komponist verhältnismäßig wenig Beachtung. Nur wenige seiner Werke sind im allgemeinen Bewusstsein der Musikfreunde präsent: die Symphonie d-Moll, vielleicht auch die Violinsonate, am ehesten wohl die Orgelwerke, an denen kein Organist vorbeikommt. Dass er auch Symphonische Dichtungen, Oratorien, ja sogar Opern geschrieben hat, ist selbst musikinformierten Zeitgenossen meist unbekannt – und das zu Unrecht. Denn Franck hat ein bedeutendes, alle Gattungen umfassendes Werk hinterlassen und darf neben Hector Berlioz, Camille Saint-Saens und Claude Debussy zu den großen französischen Komponisten des 19. Jahrhunderts gerechnet werden.

Aber war er überhaupt ein französischer Komponist? oder ein belgischer? oder ein deut­scher? Das war am Ende des 19. Jahrhunderts in Frankreich durchaus eine politische Frage. Im Jahre 1871 wurde in Paris die Société Nationale de Musique gegründet, deren Ziel es war, die nationale französische Musik zu fördern und den Einfluss von außen – vor allem der deutschen Musik – einzuschränken. Gerade die deutsche hatte, seit der Wiener Klassik, auf dem Gebiet der Symphonik und Kammermusik eine dominante Stellung.

César Franck ist in Lüttich (Liège) geboren; sein Vater stammte aus dem deutschsprachigen Gebiet des heutigen Belgiens, die Mutter aus Aachen. 1836 kam Franck erstmals nach Paris. Er war zunächst als Komponist wenig erfolgreich und trat vor allem als Organist hervor, als Titulaire an der Cavaillé-Coll-Orgel in Sainte-Clothilde. Sein Durchbruch als Komponist er­folgte in den 70er Jahren, also gegen Ende des 5. Lebensjahrzehnts – das verbindet ihn mit einem anderen „Spätberufenen“: Anton Bruckner. Damals fand Franck zu seinem unverwechselbaren Personalstil und es entstanden seine „großen“ Werke.

Parallel dazu erfolgte auch sein gesellschaftlicher Aufstieg: 1871 wurde er Mitglied der Société Nationale de Musique, deren Präsident er später wurde. 1872 erfolgte seine Berufung ans Pariser Conservatoire als Professor für Orgel. Seine hauptsächliche Aufgabe sah er inzwi­schen jedoch in der Komposition. Namhafte Kompositionsschüler scharten sich in seiner Orgelklasse um ihn, die ihn hoch verehrten. 1873 erhielt er die französische Staatsbürgerschaft. 

2. Wagnérisme in Paris

Entgegen den Vorbehalten gegenüber der deutschen Musik nach dem Krieg von 1870/71:  e i n   deutscher Komponist geriet schon in den 80er Jahren wieder in den Fokus der französi­schen Aufmerksamkeit – nicht in den der offiziellen Kulturpolitik (dort war er weiterhin geächtet), aber in den der Kulturschaffenden: Richard Wagner. Es entstand damals ein Phänomen, das als „Wagnérisme“ in die Kulturgeschichte Frankreichs einging – der Begriff tauchte 1874 erstmals in Paris auf. 

Der Wagnerismus entwickelte sich zu einer bedeutenden kulturellen Strömung – aber nicht nur in Frankreich, sondern auch in Ländern wie Italien und England. Das eigentlich Erstaunliche jedoch ist, dass der Wagnérisme nicht auf das Gebiet der Musik beschränkt blieb, sondern einen darüber hinausreichenden kulturellen Diskurs entfachte und sich auf die Kunstproduktion auswirkte: Ideen wie die des Gesamtkunstwerks und des Leitmotivs faszinierten und stimulierten Literaten, Philosophen, Dichter und Maler. 

Der Wagnérisme entfaltete sich erwartungsgemäß in erster Linie auf dem Gebiet der Opernkomposition. Die Oper war im 19. Jahrhundert in Paris (anders als in Deutschland) die gesellschaftlich zentrale musikalische Gattung. Die Rezeption der Musikdramen Wagners in Frankreich – vor allem von „Tristan und Isolde“ (UA München 1865) und später „Parsifal“ (Bayreuth 1882) – führten zu der Erkenntnis, dass die traditionelle Oper obsolet war, u. z. weil sie nicht die Logik des Dramas ins Zentrum stellte, sondern die musikalische Form. Die Dominanz der musikalischen Formen zeigt sich z. B. darin, dass aus Gründen der musikalischen Symmetrie im Dialog einzelne Worte, Satzteile usw. wiederholt werden müssen, was dramaturgisch sinnlos ist. Außerdem diente die Arie (als wichtigste Form der alten Oper) vorrangig der Präsentation von Gesangsfertigkeit (Stichwort: Gesangsoper), was ebenfalls zu Konflikten mit der Handlung führt. – Kurzum: Man kam zu der Überzeugung, dass die traditionelle Oper einem höheren, emphatischen Kunstanspruch nicht genügte. In dieser Lage erschien das „Système wagnérien“ vielen als ein Weg, die Krise der Oper zu überwinden und ihr eine Chance als ernstzunehmende theatralische Gattung (neben dem Schauspiel) zu geben. 

Was war innovativ am Musikdrama Wagners gegenüber der französischen (auch italienischen) Oper? Das Drama, d. h. die Handlung, steht im Mittelpunkt. Die Handlung wird in Wagners Musikdrama durch die Musik transportiert, denn im symphonischen Orchestersatz mit seinem Gewebe aus bedeutungstragenden Leitmotiven bildet sich die Handlung ab. Dem dominierenden symphonischen Orchester gesellt sich die Singstimme bei und präzisiert mithilfe der Worte die Handlung. Sie artikuliert sich in einem „sprechenden“ Gesangsstil, der zwischen ariosem und rezitativischem Vortrag steht – die alte Trennung von handlungstragendem Rezitativ und reflektierender Arie, die den Fortgang der Handlung behinderte, ist aufgehoben.

3. César Franck und der Wagnérisme

Während viele französische Komponisten die Errungenschaften von Wagners Musikdramen mehr oder weniger auf ihre Opern übertrugen (sogar Jules Massenet), entzogen sich andere bewusst dem Einfluss Wagners (wie Gounod und Georges Bizet).

Und César Franck? Dieser galt einigen nach dem Tod von Berlioz (1869) als Kopf der Anti-Wagnerianer. Er pflegte seine Schüler angeblich vor dem „Gift des Tristan“ zu warnen und soll (gemäß einer netten Anekdote) auf seine Tristan-Partitur das Wort „poison“ (Gift) geschrieben haben – was damit auch immer gemeint sein sollte.

Doch Francks Orgelklasse am Conservatoire, in der sich seine Kompositionsschüler versammelt hatten, galt als „Bollwerk“ der Verteidiger Wagners. Sie wurde seit 1874 von Vincent d‘Indy angeführt. Dieser besuchte, wie andere französische Komponisten, den ersten Bayreuther Ring von 1876; seine Opern Ferwaal und L‘Étranger sind Werke des Wagnéris-me. D’Indy und Henri Duparc waren es, die Franck in die Werke Wagners einführten.

Der scheinbare Widerspruch löst sich indessen leicht auf: Nach außen kommunizierte Antihaltung gegenüberWagner und (unbewusste oder uneingestandene) Beeinflussung durch Wagner müssen sich nicht ausschließen, wie auch das Beispiel Claude Debussy zeigt. Von Franck ist zwar keine Äußerung zu Wagner und dem Wagnérisme überliefert, weder eine zustimmende noch eine ablehnende. In seiner Musik jedoch ist der Einfluss Wagners unüberhörbar. Um das zu belegen, möchte ich Ihnen zwei Werke von Franck vorstellen: Les Éolides und Hulda.

4. Die Symphonische Dichtung Les Éolides (1876) – eine „Hommage à Wagner“? 

Es handelt sich um ein etwa 11-minütiges Orchesterstück nach einem Gedicht von Leconte de Lisle. (Die Äoliden sind die Töchter des Gottes der Winde: Äolos.) Das Stück enthält einige Anspielungen auf das Tristan-Vorspiel von Richard Wagner. Nicht nur ist die Tonart a-Moll/A-Dur die gleiche, sondern auch Motive stimmen überein. Wir greifen hier zwei heraus.

1. Die erste Phrase des Vorspiels zur Oper Tristan und Isolde besteht (technisch gesprochen) aus zwei Akkorden und zwei chromatischen Linien (Klavierbeispiele, siehe Abb. [a]). Die beiden Akkorde sind der berühmte „Tristan-Akkord“, ein dissonanter Akkord, über den eine unüberschaubare Menge an Literatur entstanden ist, und ein einfacher Dominantseptakkord (E-Dur). Hinzutreten die beiden 4-tönigen chromatischen Linien: Die untere beginnt im Violoncello mit einem Sextsprung aufwärts und steigt dann chromatisch bis d ab. Die obere geht in der Oboe vier chromatische Töne aufwärts, wobei die ersten beiden (vorhaltsartigen) Töne über dem Tristan-Akkord, die letzten beiden (ebenfalls vorhaltsartigen) Töne über dem Dominantseptakkord erklingen. Musikexegeten bezeichnen diese drängende Linie als „Sehnsuchtsmotiv“, denn es schwingt am Ende in einer unaufgelösten Dissonanz in die Pause hinüber – als Symbol des unerfüllten Sehnens.

Das „Sehnsuchtsmotiv“ erklingt im Verlauf der Oper in zahlreichen Varianten: in anderem Rhythmus, mit anderen Harmonien (z. B. ohne Tristan-Akkord) oder überhaupt nur über einem einzigen Akkord, auch in schnellem Tempo. Siehe das Beispiel aus dem Beginn des II. Aktes, wo es in der Regieanweisung heißt: „Isolde tritt, feurig bewegt, aus dem Gemach zu Brangäne“ [a1]; die Harmonik ist hier jeweils ein Verminderter Septakkord.

Die Éolides beginnen mit einem Thema in den Streichern, das einen chromatischen Bogen bildet. Aus diesem spaltet sich ein mit dem „Sehnsuchtsmotiv“ identisches chromatisches Vierton-Motiv ab, das zuerst von der Solo-Klarinette, dann von der Solo-Oboe vorgetragen wird [b]. In der Klarinette erklingt es über einem einfachen Dominantseptakkord (A-Dur), in der Oboe jedoch über dem „Tristan-Akkord“ (einem halbverminderten Septakkord) und einem F-Dur-Septakkord (enharmonisch verwechselt). Die Harmonik ist beim zweiten Mal also identisch mit dem „Sehnsuchtsmotiv“ am Beginn des Tristan-Vorspiels; sogar die Instrumentation mit einer Oboe ist die gleiche. Lediglich die Begleitung ist „verdickt“ (5-stimmig).

Das Motiv drückt in den Éolides selbstverständlich nicht ein ewiges Sehnen aus, sondern ist aufgrund des schnelleren Tempos und des tänzerischen Rhythmus‘ die Darstellung sozusagen „eines kleinen Lüftchens“.

Musikbeispiel CD: Les Éolides, Anfang bis Takt 30

Am Ende des Klangbeispiels, in T. 28 und 30, ist zu hören, dass selbst die (zweimalige) einstimmige Abspaltung der Vorhaltssekunde (hier e-f) aus dem Tristan-Vorspiel übernommen wurde (dort in T. 14f. eis-fis).

2. Das zweite aus dem Tristan stammende Motiv findet sich im Hauptteil der Éolides (T. 103f.). Es ist ein 5-töniges Motiv, das in einem Dreiklang absteigt, gefolgt von einem absteigenden Sekundvorhalt (Klavierbeispiel [c], auch hier ist der Satz wieder durch Zusatzstimmen „verdickt“). Im Tristan-Vorspiel erscheint dieses Motiv, das von Wagner-Exegeten auch als „Motiv des Todesentschlusses“ bezeichnet wird, zwar in einer harmonisch abweichenden Form. Doch wird es meist sequenziert und erscheint in zahlreichen harmonischen Varianten. Dabei kann auch der Vorhalt am Ende sowohl aufwärts als auch abwärts erfolgen (siehe [d]).

In den beiden hier gezeigten Fällen kann es sich nicht um zufällige oder unbeabsichtigte Zitate handeln, dafür sind die Übereinstimmungen zu groß. Vielmehr liegt ein beabsichtigtes Zitieren vor, bei gleichzeitiger variativer Umgestaltung der Vorlage – als ob Franck sagen wollte: „So könnte man das Material auch gestalten“. Man kann daher wohl von einer „Hommage à Wagner“ sprechen – sofern man die Absicht einer Karikatur ausschließt (und die möchte ich Franck nicht unterstellen).

5. Die Oper Hulda (1879-85) als Werk des Wagnérisme

In der Oper Hulda kommt Franck der Musik Wagners noch näher; sie kann als ein Werk des französischen Wagnérisme bezeichnet werden. Bereits der „nordisch-germanische“ Stoff ist wagneristisch: Denn Hulda spielt im „frühmittelalterlichen“ Norwegen – bzw. eher in vorgeschichtlicher Zeit, so wie der Fliegende Holländer. Doch entspricht die Oper weder durchgehend, d.h. in allen Szenen, noch in allen Merkmalen dem Wagnérisme.

Ich möchte Ihnen hier per CD einen größeren Ausschnitt aus Hulda vorspielen: nämlich die Szene des III. Akts, in der die Protagonistin Hulda und ihr Geliebter Eiolf sich ihrer Liebe versichern. Dieser Ausschnitt soll – und das ist naheliegend – der berühmten Liebesszene im II. Akt von Tristan und Isolde gegenübergestellt werden. Denn es gibt Parallelen, sowohl in der Dramaturgie des Akts als auch konkret in der Musik. 

Die Situation der Protagonisten in Hulda ist allerdings ganz verschieden von der im Tristan: Während dort die Liebenden einer unergründlichen Liebe verfallen sind, der sie nicht entrinnen können bzw. an deren Erfüllung der Tod steht, versucht Hulda ganz direkt ihren Geliebten dazu zu bewegen, mit ihr in eine bessere Zukunft zu fliehen (die Situation ist ähnlich wie in Verdis Aida). Jedoch kann Hulda sich Eiolfs Liebe nicht sicher sein – und er wird sie tatsächlich später betrügen. 

Wenn Sie, meine Damen und Herren, den Tristan oder andere Musikdramen Wagners ein wenig im Ohr haben, werden Sie die Gemeinsamkeiten vielleicht hören können. Sie zeigen sich beispielsweise im Gebrauch des symphonischen Orchestersatzes, der Leitmotive, in der Harmonik und im Verhältnis von Singstimme und Orchester. 

Die Unterschiede zu Wagner zeigen sich beispielsweise in einer regulären, meist „quadratischen“ musikalischen Syntax (2+2=4, 4+4=8 Takte), verursacht durch die Gebundenheit der Wortdeklamation an ein Versmaß. Dieses ist in Hulda fast durchgehend der 12-silbige Alexandriner, selten einmal unterbrochen durch kürzere Verse. Das Festhalten an der antiquierten Versform verleiht der musikalischen Diktion eine an Kantatenkompositionen gemahnende Starrheit. Demgegenüber ermöglicht die vom Stabreim geprägte Flexibilität der Verse Wagners im Dialog eine dynamische Entfaltung des dramatischen Geschehens. 

Ausgangspunkt der „Liebesszene“ ist folgender: Hulda erwartet ungeduldig ihren Geliebten (wie Isolde im II. Akt). Dazu erklingt eine drängende Melodie (wie im Tristan). 

Nach einer Generalpause folgt ein langsamer Teil (Lentamente, KA, S. 159). Hier erklingt im Orchester ein (diatonisches) Dreiton-Motiv mit repetiertem Ton am Ende [e1], das sich chromatisch ausweitet zu einem Vierton-Motiv mit abschließendem Vorhalt [e2]. Dieses Motiv kann man als eine „Vorahnung“ des 4-tönigen „Sehnsuchts-Motivs“ im Tristan bezeichnen, denn es wird sich im Folgenden diesem durch Chromatisierung weiter annähern.

Eiolf naht (man hört seine Schritte im Orchester) und betritt die Szene mit dem zweimaligen Ruf „Hulda“, u. z. mit fallender Sept bzw. Sext: a-h bzw. des-f; ganz ähnlich tritt Tristan mit dem Ruf „Isolde“ auf, u. z. mit fallender Sext: (es)-as-c. Dazu erklingt im Orchester das dem „Sehnsuchts-Motiv“ ähnliche Dreiton-Motiv, jetzt in chromatischer Tonfolge: h-c-des – der abschließende Vorhalt fehlt noch [e3]. Am Ende der Entwicklung hört man das vollständige chromatische Viertonmotiv [e4], durchgezogene Klammer (KA, S. 163, A-Dur, a tempo, T.1-3). Es erklingt von da an mehrmals bis zum Ende der Szene, zwar manchmal eingebettet in eine Skala, aber stets gut zu erkennen durch die verlängerte erste Note (z. B. durch eine punktierte Viertel). Außerdem stimmt jetzt auch die Harmonik (Verminderter Septakkord) mit Wagners „Sehnsuchtsmotiv“ überein (z. B. [a1]).

Bei Huldas Erwiderung erklingt ein Motiv im absteigenden Dreiklang, zunächst ohne und dann mit abschließendem Vorhalt (e-c-a – fis, e-c-a – g-fis) [f]. Die Vortragsbezeichnung lautet „très passioné“. Dieses Leitmotiv möchte ich als „Huldas Liebesmotiv“ bezeichnen, es taucht ab dieser Stelle immer wieder auf. 

Es ist eine rhythmische Variante des „Todesentschluss-Motivs“ aus dem Tristan-Vorspiel [d] und dem im Hauptteil der Éolides vorkommenden Motiv [c]. Doch anders als in den Éolides stimmt hier in Hulda nun auch der charakteristische erste Akkord, ein Dominantseptnonen-Akkord, mit dem Tristan überein. 

Im Folgenden geht die Musik über in einen weichen „Klangteppich“ aus Nonen-Akkorden und wogenden Harfen. Die Szene erinnert atmosphärisch aufgrund der Nonenakkorde und der Harfe entfernt an das Zentrum der Tristan-Liebesszene mit dem Text: „O sink hernieder, Nacht der Liebe“. (Bleibt zu erwähnen, dass in dem folgenden Musikbeispiel noch zahlreiche Anspielungen an Wagners Tristan zu hören sind, die hier nicht erwähnt werden können.)

Musikbeispiel CD: Hulda III. AktAnfang der Szene Hulda-Eiolf

Das Verhältnis der Protagonisten ist stets von Spannungen und Zweifeln geprägt. Hulda singt: „Ta main tremble! Est-ce d’a-mour? Est-ce de peur?“ (KA, S. 171). Dazu erklingt wieder „Huldas Liebesmotiv“Eine Steigerung führt zu einem ersten hymnischen Höhepunkt auf dem Wort „cieux“ (Himmel). In dieses Wort fällt Eiolf ein: „Je te suivrai!“ – er scheint gewillt, mit Hulda zu fliehen.

Darauf folgt ein großes Duett (Des-Dur, Piu lento, KA S. 173), in dem sich beide Stimmen erstmals vereinigen. Dieses Duett ist deutlich der französischen Grand Opéra verpflichtet und wohl eines der schönsten der französischen Opernliteratur. Auf dem Höhepunkt fühlt man sich fast an Puccini erinnert (der übrigens auch ein Wagnerianer war, ein italienischer, und ein bekennender Bewunderer des Tristan – erkennbar vor allem in seiner Oper Manon Lescaut).

Musikbeispiel CD: Hulda III. AktSchluss der Szene Hulda-Eiolf

Nachbemerkung: Es ist schwer zu verstehen, dass diese Oper „vergessen“ wurde. César Franck hat sie nie gehört und erst 2019 wurde sie erstmals vollständig und in der Originalfassung auf einer Bühne aufgeführt: am Theater Freiburg. Bis dahin gab es nur wenige unvollständige bzw. konzertante Aufführungen.

6. Les sept dernières paroles du Christ en croix (1859) – ein Übergangswerk

Wie verhält sich Francks Sept dernières Paroles du Christ zum Wagnérisme?

Musikbeispiel CD: Les sept dernières paroles, Prologue

Der Prolog der Sept Paroles ist gegenüber der wagneristischen Hulda von überraschender Schlichtheit. Dieser Unterschied ist zum einen der unterschiedlichen Gattung geschuldet: ein Karfreitagsoratorium ist keine Oper. Der Vergleich mit einem anderen Oratorium, den Béatitudes von 1869-1879, zeigt indessen, dass der Unterschied nicht in der Gattung allein begründet ist.

Die Sept Paroles beginnen mit einem Horn-Solo, das die Atmosphäre eines romantischen Musikstücks verbreitet. Den zeitgenössischen romantischen Stil erkennt man in weiteren Sätzen auch in den Cello-Soli oder in dem Gebrauch der Harfe (ein speziell französisches Merkmal). Der französischen Oper entlehnt erscheinen einige Vokal-Soli, vor allem die hohen Partien des Tenors. In großen Teilen des Werks glaubt man dagegen Musik von Mozart und der Wiener Klassik zu hören, was vor allem durch die Melodik und die einfache Harmonik bewirkt wird. Tatsächlich stehen die Sept Paroles dem Oratorium Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze von Josef Haydn aus dem Jahre 1796 näher als der Oper Hulda von 1879, also dem klassischen Stil um die Jahrhundertwende von 1800.

Das Werk steht in der Tradition der französischen kirchlichen Gebrauchsmusik und ist auch Laienchören leicht zugänglich. Vor allem die Chorstücke bestehen aus einfachen Kadenzfolgen und einem akkordisch-homophonen Satz. Polyphonie fehlt ganz, was die Ausführbarkeit ebenfalls erleichtert. Von deutlich größerem Reiz sind, auch aufgrund ihrer gefälligen Melodik, die Solosätze.

Die Sept Paroles sind jedenfalls, soviel dürfte deutlich geworden sein, kein Werk des Wagnérisme. Das ist auch historisch unmöglich, denn sie entstanden noch bevor Wagners Werk in Paris bekannt wurde. Die Komposition der Sept Paroles wurde in demselben Jahr und Monat beendet wie Tristan und Isolde: im August 1859Die frühesten Anfänge des Wagnérisme datieren auf die Jahre 1860 und 1861, als Wagner aus Anlass der Aufführung seines Tannhäusers in Paris weilte und in einem Konzert auch das Tristan-Vorspiel aufführte.

Zum Inhalt des Werks möchte ich Armin Landgraf zitieren, der die erst seit 1955 bekannte Partitur der Sept Paroleserstmals herausgegeben und der beste Kenner des Werks sein dürfte:

„Schon das Sujet ist für Franck charakteristisch. Nicht die Leidensgeschichte Jesu wählte er als textliche Vorlage, es sind allein die Kreuzesworte. Es ging ihm nicht um eine dramatische Darstellung der Passion Christi, sondern um die musikalische Vertiefung dessen, was hinter dem äußeren Handlungsablauf des Geschehens von Golgatha steht und in den Worten des Gekreuzigten sich zeichenhaft zu erkennen gibt: Vergebung, Heilszusage, Mitleiden, Verlassenheit und Not, Erlösung, Gottergebenheit. Die Neigung, inneren Empfindungen, gläubigem Schauen musikalischen Ausdruck zu verleihen, zeigt unübersehbare Parallelen zu Francks Hauptwerk: den Seligpreisungen.“[1]

Denkbar ist, dass Franck die Sept Paroles für den Gebrauch während der Karfreitagsliturgie an Sainte-Clothildevorgesehen hatte, an der er zunächst Kapellmeister und später Organist war. (Übrigens: auch Haydns Sieben letzte Worte waren für den liturgischen Gebrauch am Karfreitag komponiert worden.) Dann aber fragt sich, warum Franck das Werk nicht aufgeführt hat; denn eine Aufführung ist mit Sicherheit zu seinen Lebzeiten in Paris nicht erfolgt, auch nicht an „seiner“ Kirche. Vielleicht erschien ihm die Partitur noch zu unselbständig, zu sehr in der Tradition verwurzelt. Armin Landgraf, der Herausgeber der Partitur, schreibt:

„Noch ist die persönliche und unverwechselbare Stimme des Meisters, wie sie etwa aus den Béatitudes uns entgegenklingt, kaum zu vernehmen, doch wird mit dieser Passionsmusik deutlich, dass Franck die lange Wegstrecke beschritten hat, die ihn von den Erzeugnissen einer gefälligen Musik des Tages zur tiefdringenden Gestaltung einer im Geistlich-Seelischen wurzelnden Erlebniswelt führen soll.“

Ein Werk des Übergangs sind die Sept Paroles auch in anderer, nämlich in kompositions-technischer Hinsicht. Darauf lenkt Klauspeter Bungert[2] den Blick, insbesondere auf die Konzentration des musikalischen Materials. Diese erfolgt durch den Gebrauch von „melodischen Grundgestalten“ (wie ich sie bezeichne), ein Verfahren, das im Prinzip auf Beethoven zurückgeht. Die „Grundgestalt“ in den Sept Paroles ist die am Anfang des Prologs durch das Solo-Horn vorgetragene Wellenbewegung. Sie breitet sich in dem ganzen ersten Satz aus und sorgt für formale Einheit. Da sie aber auch in die anderen Sätze des Werks hineinwirkt, verfestigt sich das ganze Werk zu einer zyklischen Großform. – Dieses Verfahren wird für das spätere Werk Francks wichtig. 

In den Sept Paroles ist noch eine weitere Zeitströmung des 19. Jahrhunderts zu erkennen: die Rückbesinnung auf die Kirchenmusik des 16. Jahrhunderts, die sog. „klassische Vokalpolyphonie“ – eine Zeitströmung, die in Deutschland als „Cäcilianismus“ bezeichnet wird. Man empfand die Werke des 16. Jahrhunderts (z. B. von Palestrina oder Orlando di Lasso) als besonders „kirchlich“, verklärte sie als die „wahre“ Kirchenmusik (im Gegensatz zur Kirchenmusik von Barock und Klassik) und imitierte sie in Neukompositionen. Merkmale dieser „klassischen Vokalpolyponie“ des 16. Jahrhunderts sind die A-cappella-Technik bzw. der Verzicht auf Instrumente, der Gebrauch von Kirchentonarten oder „Modi“ (im Gegensatz zur Dur-Moll-Tonalität), der polyphone Satz (auch wie hier in seiner einfachsten Form als contrapunctus simplex) und der Gebrauch von strengen Dissonanzregeln. 

Ein Zeugnis dieser Rückbesinnung sind z. B. Les sept paroles de Notre Seigneur Jésus-Christ sur la croix von Charles Gounod (1818-1893). Sie wurden 1855 komponiert, also vier Jahre vor den Sept Paroles von Franck. Vielleicht kannte Franck das Werk des fast gleichaltrigen Pariser Kollegen. Darin finden sich die aufgeführten stilistischen Merkmale der Vokalpolyphonie wesentlich ausgeprägter als in Francks Werk. – Ist das vielleicht auch ein Grund, warum Franck sein Werk nicht veröffentlichte?

In den Sept Paroles finden sich die Merkmale der klassische Vokalpolyphonie vor allem in den A-cappella-Partien, z. B. denen des 4. Worts. – Sie hören nun, gesungen vom Trierer Konzertchor, diesen Satz mit dem Text „Deus meus“.

Live-Darbietung des Trierer Konzertchors: Nr. 4 „Deus meus“

7. Das Oratorium Les Béatitudes (Die Seligpreisungen) 1869-1879

Im Gegensatz zu den Sept Paroles, die nicht mehr sind als eine kleine kirchliche Gebrauchsmusik, ist das Oratorium Les Béatitudes als „großes Werk“ für den Konzertsaal konzipiert: als ein Werk für großes Orchester, einen bis zu 8-stimmigen Chor und mindestens 6 Solisten und einer Aufführungsdauer von über zwei Stunden. Darüber hinaus zeigen sich kompositorische Unterschiede, die sich aus der späteren Entstehungszeit erklären: Die Béatitudes weisen die unverwechselbare Handschrift des späten Franck auf, die durch eine progressive Harmonik gekennzeichnet ist: durch Chromatik und Rückungen von Akkorden und Tonarten. Deutlich wahrnehmbar ist (vor allem in dem letzten Satz), dass die Béatitudes unmittelbar vor der Oper Hulda komponiert wurden.

Nimmt man das gesamte Spätwerk Francks in den Blick, so zeigt sich, dass das zyklische Prinzip, das innerhalb der Sätze der Sept Paroles beschrieben wurde, auf das ganze Spätwerk Francks übergreift. So hören wir in dem folgenden Musikbeispiel aus den Béatitudes Motive, die sowohl aus den Sept Paroles stammen, als auch später wieder in Huldavorkommen. Darunter ist vor allem ein in vier Tönen absteigendes Motiv (e e d c h mit punktierter erster Note), das in Les Béatitudes in zahlreichen intervallischen Varianten erscheint. Es fungiert in dem Beispiel aus Hulda [e4] als Mittelstimme (gekennzeichnet durch die gestrichelte Klammer). Es ließe sich als Umkehrung des oben beschriebenen chromatischen Viertonmotivs deuten, besteht aber aus einer stets wechselnden Folge von Halb- und Ganztönen.

Um den Bogen zurück zum Wagnérisme zu schlagen, hören wir abschließend den Schluss der 8. Seligpreisung: „Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden, denn ihrer ist das Himmelreich.“ 

Musikbeispiel CD: Les Béatitudes, Nr. 8, Buchstabe W bis Ende

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Begleitpapier für die Teilnehmer am Vortrags

César Franck und der Wagnérisme

1. César Franck (1822-1890), Biographie

2. Wagnérisme in Paris 

3. César Franck und der Wagnérisme

4. Die Symphonische Dichtung Les Éolides, (1876) – eine „Hommage à Wagner“?

5. Die Oper Hulda (1879-85) als Werk des Wagnérisme

6. Les sept dernières paroles du Christ en croix (1859) – ein Übergangswerk 

7. Das Oratorium Les Béatitudes (Die Seligpreisungen), 1869-1879

Richard Wagner (1813-1883)

Tristan und Isolde (komp. 1856-59)
UA des Vorspiels: 1859. UA der Oper: 1865 in München

Aufenthalt Wagners in Paris zur Aufführung des Tannhäuser: 1860/61

„Wagnérisme“ in Paris: ab 1874 (erste Erwähnung des Begriffs) bis ca. 1914

Erste Bayreuther Festspiele: 1876 mit UA der Tetralogie Der Ring des Nibelungen

César Franck: (1822-1890):

ab 1857 Kapellmeister und Titularorganist an Sainte-Clothilde (Cavaillé-Coll-Orgel)

1871 Mitgründer der Société Nationale de Musique, später deren Präsident 

1872 Professor für Orgel am Pariser Konservatorium 

Musikbeispiele CD

1. Les Éolides; Orchestre Philharmonique Royal de Liège, 2009

2. Hulda, III. Akt; Theater Freiburg 2021

3. Les sept paroles du Christ sur la croix, Nr. 1; Mainzer Domchor, 2014

4. Les Béatitudes, Nr 8; Gächinger Kantorei, Helmuth Rilling, 1990.


[1] César Franck, Die Sieben Worte Christi am Kreuz für Soli, Chor und Orchester, Klavierauszug, Carus-Verlag.

[2] Klauspeter Bungert: César Franck. Eine analytische und interpretative Annäherung an sein Werk, 2/Hamburg 2019 (1/Ffm 1996).