Lieder Richard Wagners und des französischen Wagnerismus

mit Werken von Wagner, Schumann, BerliozDuparc, Fauré und Debussy 
gesungen von Gaëlle Vien (Luxemburg), am Klavier Prof. Jochen Schaaf 
Kurfürstliches Palais Trier, Sonntag den 22. Okt. 2017
im Rahmen der Veranstaltungen 30-Jahre Richard Wagner Verband Trier-Luxemburg

Lieddarbietung: Ernest Chausson: Sérénade (op. 13,2)

Dem französischen Wagnérisme, diesem einzigartigen Kapitel in der deutsch-französischen Kulturgeschichte, wird verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit zuteil. In meiner Darstellung möchte ich den mit diesem Begriff verbundenen Kulturtransfer in der Zeit vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum I. Weltkrieg beleuchten und insbesondere auf das französische und deutsche Klavierlied eingehen. Um das Phänomen besser zu verstehen ist auch ein kurzer Rückblick auf die Vorgeschichte der Liedkomposition erforderlich. Dazu werden schlaglichtartig zwei Jahre, 1840 und 1857, herausgegriffen, bevor wir uns dem in den siebziger Jahren einsetzenden eigentlichen Wagnérisme zuwenden.

Das Klavierlied war für Richard Wagner nur eine Nebengattung, wie alles außer der Oper, und nur dreimal in seinem Leben hat er sich mit dem Lied beschäftigt. Mit den „Fünf Wesendonck-Liedern“ jedoch (sie entstanden 1857/58 im Züricher „Asyl“) leistete er einen gewichtigen Beitrag zu dieser Gattung. Kaum bekannt – und in ihrer Bedeutung m. E. bis heute verkannt – sind dagegen seine 18 Jahre zuvor komponierten acht „Lieder auf französische Texte“ (sie entstanden im Winter 1839/40 während seines ersten Paris-Aufenthalts). Die noch früheren „7 Kompositionen zu Goethes Faust“ (von 1831) sind hingegen künstlerisch belanglose Schülerarbeiten des 18-jährigen und werden hier nicht berücksichtigt.

I. Das französische Klavierlied zu der Zeit 
von Wagners Paris-Aufenthalt von 1839 bis 1842

Dass deutsche und französische Musik sich unterscheiden, spürt auch der Musikliebhaber. Ursachen liegen in der Sprache begründet, in der Mentalität oder im unterschiedlichen Temperament– man spricht z. B. bezüglich der Sprache, aber nicht nur diesbezüglich, von der „clarté française“. Problematisch ist es, die unterschiedlichen musikalischen Eigenschaften genauer zu benennen und systematisch umfassend zu beschreiben. Spontan wird man die französische Vorliebe für federnde Rhythmen oder aparte harmonische Wirkungen, überhaupt für eine gewisse Leichtigkeit anführen. Auf deutscher Seite wirkt in der Musik des 19. Jahrhunderts das nach, was mit dem Begriff der „deutschen Romantik“, insbesondere der literarischen Romantik (Novalis, Brentano, Tieck, Eichendorff) verbunden wird. Der rationalen „Clarté“ wird der Topos der „deutschen Innerlichkeit“ gegenübergestellt: Musik als Ausdruck des innersten Empfindens und als Darstellung des Innersten der Welt; Musik als Vermittlerin des mit Worten nicht Nennbaren.

Dieser Antagonismus soll hier nicht weiter theoretisch vertieft werden. Wir wollen uns stattdessen durch Musikbeispiele den unterschiedlichen Musikkulturen annähern, um die Tragweite des im Wagnerismus begründeten Kulturaustauschs besser zu verstehen. Das werden wir zunächst anhand zweier Lieder versuchen, die im selben Jahr 1840 entstanden sind: der Villannelle von Hector Berlioz (1803-1869) und dem Lied Im wunderschönen Monat Maivon Robert Schumann (1810-1856).

1. Romance, Lied und Mélodie – Berlioz und Schumann

Das Lied Villanelle steht der französischen Romance des 19. Jahrhunderts nahe. Diese war ein schlichtes strophisches Lied mit einfacher Klavierbegleitung auf bevorzugt sentimentale oder erzählende Texte und steht soziologisch dem »Salon« nahe. Hier bei Berlioz wird die strikte Strophenform allerdings durch Ansätze einer melodischen Variation der Strophen aufgebrochen, die eine kunstvollere Darstellung der Sprachprosodie zum Ziel hat. Außerdem wird die für die Romance typische schlichte Trennung von Melodie und Begleitung durch kleinere imitatorische Verknüpfungen beider Ebenen artifiziell überformt. Auch übersteigt die raffinierte, im Dienst der Textausdeutung stehende Harmonik von Berlioz bereits die einfachen Sätze der Romance. 

Als Beispiel für eine besondere harmonische Gestaltung zwei Stellen: Bei »les froids« (die Kälte) erklingt im anfänglichen A-Dur überraschend ein „kühler“ und sehr aparter B-Dur-Akkord. Und die stärker vom Strophenschema abweichende 3. Strophe beginnt in einer entfernten Moll-Tonart und moduliert kreuz und quer, wenn es im Text heißt: „Wir verlieren uns ganz tief im Wald“. 

Insgesamt entsteht eine Musik, deren Lebhaftigkeit und helle Leichtigkeit, zusammen mit den aparten harmonischen Wendungen, als typisch für den französischen Stil gelten darf. 

Wie Berlioz’ Villanelle ist auch Schumanns „Im wunderschönen Monat Mai“ ein Lied über eine Liebe im Frühling – aber welch ein Unterschied! Bei Berlioz schwärmen Text und Musik von zukünftigem, ungetrübtem Glück und in den Naturbildern werden die Freuden der Liebe heraufbeschworen (in dem aufgeschreckten Kaninchen und dem prächtigen Geweih des Hirschs darf man wohl mehr als nur vordergründig die Waldrequisiten sehen.) Bei Heine und Schumann dagegen erleben wir die Liebe erst im Vorstadium der Hoffnung und ahnen bereits, dass sie scheitern wird. 

Die Vertonung Schumanns ist ein perfekt ausgearbeitetes Kunstwerk: Klavierpart und Gesangsmelodie entspringen – anders als bei Berlioz – aus e i n e r musikalischen Idee und wirken wie aus einem Guss. Das, was man gemeinhin „deutsche Innerlichkeit“ nennt, wird bereits im Klaviervorspiel durch eine romantisch-überschwängliche Melodie exponiert. In diese romantische Welt passt auch der harmonisch offene Schluss des Liedes (ohne Tonika-Akkord): Er ist ein Symbol für das Ausschwingen ins Unendliche, ins Unsagbare – ein Merkmal der deutschen Romantik. 

Lieddarbietungen: Hector Berlioz: Villanelle (Text: Théophile Gautier)
Robert Schumann: Im wunderschönen Monat Mai (Text: Heinrich Heine)

Wenn man den Unterschied noch einmal grundsätzlicher fassen will, dann vielleicht folgendermaßen: Das Berlioz-Lied stellt ein apartes Bild vor uns hin, an dem wir unser Vergnügen haben, während das Schumann-Lied unser Gefühl unmittelbar anspricht und uns in seinen Bann ziehen möchte.

2. Zum französischen Klavierlied des 19. Jahrhunderts

Diese beiden Lieder sind quasi idealtypische Beispiele für französische und deutsche Liedkunst. Sie dienen uns, wie erwähnt, als Ausgangspunkt für die Darstellung des gegenseitigen Kulturaustauschs auf der Ebene des Liedes. Dieser Transfer war durch die Jahrhunderte hindurch zwischen Deutschland und Frankreich äußerst lebhaft. Während er auf vielen Gebieten von Frankreich ausging (denken Sie nur an die deutsche Sprache mit ihren vielen französischen Lehnwörtern), verlief er in der Musik seit dem 18. Jahrhundert, vor allem aber im 19. Jahrhundert in der Gegenrichtung. Zu nennen ist vor allem die Etablierung einer französischen Symphonik und Kammermusik, die durch die Rezeption der Wiener Klassik, insbesondere der Musik Beethovens, angestoßen wurde.

Ähnlich verhielt es sich mit dem französischen Klavierlied. Am Anfang stand die „Entdeckung“ der Lieder Franz Schuberts: Die erste gedruckte Sammlung seiner Lieder erschien in Paris schon 1833 (natürlich in französischer Übersetzung). Die Erfahrung mit Schubert führte zur Entstehung einer neuen Gattung neben der Romance, die „Mélodie“ genannt wird. Waren die Romanzen liedhafte, melodiebetonte Strophenlieder mit einfacher Klavierbegleitung, so orientierte man sich bei der Mélodie am künstlerisch anspruchsvolleren romantischen „Lied“ Schuberts und später auch Schumanns. Am Anfang diese Entwicklung stehen die Lieder von Berlioz, Liszt, Meyerbeer und anderen. Zu einer eigenständigen, der deutschen ebenbürtigen Liedgattung kam es in Frankreich aber erst nach 1871 durch Komponisten wie Gabriel Fauré, Henri Duparc und Claude Debussy. 

3. Richard Wagners französische Lieder

Im selben Jahr 1840, in dem die beiden eben gehörten Lieder entstanden sind (genauer im Winter 1839/40), schrieb Richard Wagner seine französischen Lieder auf Texte von Victor Hugo, Heinrich Heine (in französischer Übersetzung) und anderen. Mit ihnen wollte er sich in Paris bekannt machen. In Mein Leben heißt es dazu: „Die Freunde rieten [mir], … einige kleine Gesangskompositionen zu schreiben, welche ich beliebten Sängern zum Vortrag in den häufigen Konzerten anbieten könnte.“ (ML 183). – Die Lieder blieben aber ohne die erwünschte Wirkung, denn es ist Wagner nicht gelungen, „beliebte Sänger“ zu finden, welche die Lieder in die Salons trugen, denn er war dafür zu unbekannt. 

Aus diesen französischen Liedern hören wir nun „Mignonne“; der Text stammt von Pierre de Ronsard (1524-1585), dem großen französischen Dichter der Pléiade im 16. Jahrhundert. Wie die Literaturwissenschaft herausgefunden hat, ist das Gedicht inspiriert durch den lateinischen Dichter Ausonius, der durch sein Wirken in Trier um das Jahr 365 mit unserer Stadt verbunden ist. Es ist ein Gedicht über eine Liebe angesichts der menschlichen Vergänglichkeit, ein Text, in dem Melancholie sich auf merkwürdige Weise mit Rationalität mischt. Das Fazit lautet: Wie die Blütezeit der Rose, so verfliegt auch die Jugend, also nutze sie! Diese „carpe-diem“– Lyrik ist alles andere als romantische Liebeslyrik!

Wagner gelingt hier eine Melodie im Ton der französischen Romanze, wozu schon der in dieser Gattung beliebte 9/8-Takt beiträgt, die Komposition als Ganzes jedoch besitzt eine anspruchsvolle kompositorische Ausarbeitung: 

Die motivische Anlage des Satzes trägt die Handschrift des deutschen Liedes in der Tradition Beethovens und Schuberts. Die einfache liedhafte Syntax (Musiker sprechen bei einer Reihung von 2+2=4, 4+4=8, 8+8=16 Takten auch von „quadratischer Syntax“) erfährt eine kunstvolle Überformung. Darüber hinaus sind Singstimme und Klavier durch ein Netz motivischer Anspielungen miteinander verknüpft. Gleich zu Anfang wird die Aufmerksamkeit auf eine fallende Quarte bei dem Wort „Mignonne“ gelenkt, die im weiteren Verlauf wie ein Leitmotiv behandelt wird und (im Vorgriff auf Wagners spätere Technik) ein Netz von semantischen Querverweisen über das Lied legt. 

Lieddarbietung: Richard Wagner: Mignonne (1839/40)

Fazit: Wir haben es hier mit einer artifiziellen „Lied“-Komposition zu tun, die dem romantischen Lied von Schubert und Schumann in Nichts nachsteht. (Es ist höchste Zeit, die stiefmütterliche Behandlung der Pariser Lieder Wagners- zu revidieren!)

II. Wesendonck-Lieder und französischer Wagnerismus

1. Wesendoncklieder (1857/58)

Wir springen 18 Jahre weiter ins Jahr 1857. Der wegen „Teilnahme an einer aufrührerischen Bewegung“ während der Revolution von 1848 in Deutschland steckbrieflich gesuchte Wagner lebt inzwischen im Züricher Exil (1850-58). Der Großindustrielle Otto Wesendonck hat ihm eine Wohnung in einem Nebengebäude auf dem riesigen Parkgelände seiner herrschaftlichen Villa über dem Zürichsee zugewiesen. Wagner arbeitet an seinem summum opus: Tristan und Isolde. Von Anfang an nimmt Wesendoncks Ehefrau Mathilde regen Anteil an seiner Arbeit. Zwischen beiden entwickelt sich eine Liebesbeziehung. Künstlerische Frucht sind die fünf Lieder Wagners auf Gedichte der jungen Frau. Darunter treten zwei Lieder hervor, die eine enge Verbindung zur Musik des Tristan haben: die Lieder Träume und Im Treibhaus – Wagner nannte sie „Studien zu Tristan und Isolde“. 

Die Dichtung Mathilde Wesendoncks kommt in der Literatur meist nicht gut weg – vielleicht zu Unrecht. Vorwerfen kann man dem Gedicht Träume vor allem ein Missverhältnis zwischen anspruchsvollem Inhalt und einer allzu simplen Form (4-zeilige Strophen mit mechanisch klappernden 4-füßigen Trochäen). Der Text aber hat durchaus starke Momente: u.z. in der buddhistisch eingefärbten Zeile: »Allvergessen, Eingedenken!«. Mit der seltsamen Wortwahl ist ein Hindenken zum Wesentlichen gemeint, ein „Sich-Verbinden mit dem Weltgrund“, wie Ernst Bloch es nannte(Gregor-Dellin, 430).

Wie dem auch sei, der verliebte Wagner berauschte sich an diesem Bild einer ins Nichts vergehenden Sehnsucht, das bereits die Atmosphäre des II. Tristan-Akts erahnen lässt. Er adelt die mechanischen Reime durch seine überwältigende Musik, die das große Liebesduett im II. Tristan-Akt vorwegnimmt:

„O sink hernieder, Nacht der Liebe, gib Vergessen, dass ich lebe;
Nimm mich auf in deinen Schoß, löse von der Welt mich los!“

Wagners Komposition von Träume beginnt wie ein „richtiges“ Lied (im Sinne des einfachen Volkslieds): Die 1. Gedichtstrophe enthält – der simplen Versstruktur folgend – feste musikalische „Phrasen“ mit einem regelmäßig wiederkehrenden Rhythmus. Die Mittelstrophen dagegen sind rezitierend durchkomponiert (als „musikalische Prosa“ wie in Wagners Musikdramen) und ermöglichen so eine textausdeutende Deklamation. Im Hintergrund bilden die durchgehenden Achtelrepetitionen der Klavierbegleitung ein musikalisches Kontinuum – im späteren Tristan werden diese einfachen Achtelrepetitionen zu einem fast irrationalen triolisch-duolischen Rhythmus weiterentwickelt. Diese Repetitionen stehen nur an zwei Stellen still: bei dem tiefgründigen Vers „Allvergessen, Eingedenken!“ sowie in den „Todes“-Zeilen am Schluss des Gedichts.

Mathilde Wesendonck hat Wagner mit dem Wort „Träume“ auch die Vorlage für ein Leitmotiv geliefert: Es erscheint in jeder Strophe, meist am Strophenanfang. Wagner vertont das Wort mit einer auffällig langsamen, „verträumten“ Figur: lange drei Zählzeiten und anschließend ein absteigender Ganzton. Das Motiv erscheint in jeder Strophe, allerdings immer auf einer höheren Tonstufe, wodurch sich eine strophenübergreifende Steigerung aufbaut.

Lieddarbietungen:
1. Richard Wagner: Träume
2. Henri Duparc: Extase

2. Henri Duparc – ein französischer Wagnerianer

Sie haben sicher bemerkt, dass die beiden Lieder nicht ohne Grund zusammen vorgestellt wurden. Denn das Lied Duparcs (1848-1933), ist – wie dieser selbst sagte – „im Stile des Tristan“ komponiert. Das ist aber eigentlich noch untertrieben, denn Duparc zitiert den Tristan, und zwar das Liebesduett des II. Akts; beziehungsweise er zitiert das mit dem Tristan verwandte Lied Träume, u.z. vor allem das fallende „Träume“–Motiv einschließlich seiner Harmonik. Des Weiteren kombiniert er verschiedene Elemente des wagnerschen Satzes frei miteinander. 

Die Beschwörung der Tristan-Atmosphäre begründet sich aus dem Gehalt des zugrundeliegenden Gedichts von Jean Lahor. In dessen morbiden Bildern erscheinen – wie im Tristan – Liebe und Tod verschränkt.

Auf einer bleichen Lilie schläft mein Herz
einen Schlaf, süß wie der Tod.
Köstlicher Tod – Tod, duftend
vom Atem der Vielgeliebten.
Auf deiner bleichen Brust schläft mein Herz
einen Schlaf, süß wie der Tod. 

Das Wort Tod („mort“) wird von Duparc untermalt mit einem Akkord, der als Signum Wagners gilt: Die Musiktheorie nennt ihn etwas prosaisch „halbverminderter Septakkord“ (hier fis a c e); bekannter ist er unter dem Namen „Tristan-Akkord“. Außerdem erklingen gleich am Anfang bei Duparc vier Halbtöne (eis – fis – g – gis), die auf das 4-tönige chromatische „Sehnsuchtsmotiv“ am Beginn des Tristan-Vorspiels anspielen. (Im Verlauf des Liedes gibt es, dies sei nur am Rande vermerkt, auch noch Anklänge an weitere Wagner-Opern.)

Henri Duparc (1848-1933) war ein bekennender „wagnériste“. Die Wagner-Nähe hört man auch in anderen seiner Lieder, wenn auch in keinem so deutlich wie in diesem. Die Ausdrucksintensität seiner Lieder übte auf die Zeitgenossen eine starke Wirkung aus. Duparcs Leitsatz »Je veux être ému« [ich will emotional bewegt werden] entsprach einem verbreiteten ästhetischen Postulat der Komponisten des Fin de Siècle, die im »Ergriffensein« von Musik (Catulle Mendès) ein wesentliches Merkmal qualitätsvollen Komponierens sahen. Und als paradigmatisch für dieses Postulat galt die Musik Wagners.

Duparc gehörte zu den zahlreichen französischen Komponisten, die damals nach Deutschland reisten, um Wagner auf der Bühne zu erleben. 1869 und 1870 sah er als 21jähriger die Uraufführungen von Rheingold und Walküre in München, vorbereitet durch seinen (mitgereisten) Lehrer Camille Saint-Saëns, der ihn in die Partituren eingeführt hatte. Es war ein Schlüsselerlebnis für ihn und führte zu seiner Berufung als Komponist. In diesen Erweckungsjahren entstanden die ersten seiner insgesamt zwischen 1869 und 1885 komponierten Lieder. Zehn Jahre später, 1879/80, reiste er zweimal nach München, um den Tristan zu erleben. Er schreibt an einen Freund: »… que c’est certainement la plus grande émotion artistique que j’ai eue de ma vie.« [es war sicherlich der größte künstlerische Eindruck meines Lebens (van der Elst)]. 1883 hörte er in Bayreuth den Parsifal und drei Jahre später (1886) noch einmal Parsifal und Tristan. Bereits im Juli 1870 hatte er Wagner persönlich kennen gelernt: u. z. bei dem berühmt-berüchtigten Besuch mehrerer französischer Gäste in Wagners Haus in Tribschen bei Luzern am Vorabend des Krieges von 1870/71; mit dabei waren Saint-Saëns, Catulle Mendès sowie die Dichterin und Wagner-Verehrerin Judith Mendès-Gautier. Duparcs Verbundenheit mit dem Bayreuther Meister zeigt eine Episode aus dem Jahr 1883: Den Todestag Wagners (den 13. Februar) begingen er und sein Freund Vincent d’Indy, indem sie gemeinsam den ganzen Tristan spielten.

Das Lied Extase zeigt jedoch auch andere stilistische Seiten Duparcs. In seinem Mittelteil hört man beispielsweise harmonische Wendungen mit modalen (also kirchentonalen) Anklängen, die – ganz allgemein –idiomatisch für die damalige französische Musik sind, nicht aber für den Wagner-Stil (wir kommen auf das Moment des Modalen später noch zurück). 

Die folgende kurze Darstellung des französischen Wagnerismus wird zeigen, dass die Komponisten, auch wenn sie Elemente von Wagners Stil aufnahmen, das spezifisch französische Idiom nicht aufgaben.

3. Zum Wagnerismus im Fin de siècle

Der Begriff »wagnérisme« bezeichnet ein kulturgeschichtliches Phänomen von beträchtlicher Relevanz – und beträchtlicher Brisanz. Wagners Werk, das (so Thomas Mann in seinem kritischen Essay Leiden und Größe Richard Wagners) zu „einem der großartigsten, fragwürdigsten, vieldeutigsten und faszinierendsten Phänomene der schöpferischen Welt gehört“, wurde im Frankreich des Fin de siècle intensiv rezipiert. Der dadurch entfachte kulturelle Diskurs war auslösend und prägend für Entwicklungen in Frankreichs Kultur und hatte Auswirkungen bis in die Politik hinein. 

Der wagnérisme – und das ist das eigentlich Erstaunliche – blieb nicht auf die Musik beschränkt, sondern erfasste das französische Geistesleben in ganzer Breite. Mit Wagners Theorien und Errungenschaften – vor allem mit denen des Leitmotivs und des Gesamtkunstwerks – beschäftigten sich auch Literaten, Kunsttheoretiker, Dichter – wie Balzac, Gautier, Verlaine, Baudelaire, Mallarmé sowie Marcel Proust (um nur einige Namen zu nennen) – und selbst Maler wie Courbet, Gaugin und Cézanne. Man feierte Wagner als »Erneuerer« der Kunst. In der Literatur zeigt sich der Wagnerismus (um nur zwei Beispiele zu nennen) im Musikalitätsideal des Symbolismus bei Paul Verlaine oder in der Leitmotivtechnik im Roman bei Marcel Proust.

In der Musik selbst gab es einen (nur von wenigen angezweifelten) Konsens über die Bedeutung der Wagner-Rezeption für zeitgemäßes Komponieren, vor allem in der Oper. Ausgangspunkt der Auseinandersetzung bei den Musikern war das intensive Studium der Partituren und Klavierauszüge Wagners. Man spielte sie im Kreis von Kollegen und in den Salons. Chabrier und Debussy kannten den Tristan offenbar so gut, dass sie ihn auswendig auf dem Klavier spielen konnten. 

Kompositionstechnisch ging es neben Wagners Leitmotivtechnik um seinen symphonischen Stil – Merkmal dieses sog. »style wagnérien« ist die Orchestermelodie, die Dominanz des symphonischen Orchesters mit seinem Gewebe von Leitmotiven gegenüber der Singstimme. Exemplarisch für den Bezug auf diese Techniken sollen die Aussagen lediglich zweier Komponisten stehen. Fauré rechtfertigte den Gebrauch von Leitmotiven in seinen Kompositionen damit, dass es nichts Besseres gäbe [„C’est le système wagnérien; mais il n’y en a pas de meilleur“]. Auch Albéric Magnard bekennt sich im Vorwort zu seiner Oper Bérenice zum Gebrauch des „style wagnérien“, weil dieser am besten seinen dramatischen Vorstellungen entspräche. Beide Komponisten wollten damit die Modernität und Aktualität ihrer Werke betonen.

Den Komponisten ging es jedoch nicht um einfache Nachahmung Wagners – das eben gehörte Lied von Duparc ist eher eine Ausnahme –, sondern um eine produktive Aneignung. Das eigentliche Ziel war die Schaffung eines Musikdramas aus französischem Geist durch die Verbindung von Wagners Techniken mit der französischen Musiktradition.

Zur Chronologie

Die Pariser Aufführung des Tannhäuser von 1861 war der Beginn der Auseinandersetzung mit Wagner – obwohl (auch gerade „weil“) diese Aufführung durch nationalistische Kreise in Paris sabotiert worden war („Tannhäuser-Skandal“). 

Nach der Niederlage im Französisch-Deutschen Krieg von 1870/71 war Wagner allerdings zunächst tabu. Staatlicherseits gab es bis in die 90er Jahre hinein praktisch ein Aufführungsverbot der Musikdramen des „Erbfeindes“ Wagner an den Opernhäusern. Das Wort „wagneristisch“ wurde in den 70er Jahren zum Kampfbegriff, um Werke, bei denen man eine Wagnernähe konstatierte (oder unterstellte) zu desavouieren und die Komponisten als Vaterlandsverräter zu denunzieren. Selbst Bizets Carmen wurde in der Presse des Wagnerismus verdächtigt (was uns heute absurd vorkommen mag, wo doch Friedrich Nietzsche Carmen als Gegenentwurf zu Wagner gefeiert hat). Die Ablehnung ging so weit, dass Absolventen des Konservatoriums in ihren Abschlussarbeiten auf moderne Techniken verzichteten, um nicht beim Concours benachteiligt zu werden; so Debussy im Jahre 1884, der in seiner Kantate L’Enfant prodigue deshalb auf das sonst übliche «grondement chromatique» (das chromatische Tosen) verzichtete. 

Durch diese nationalistischen Töne ließen sich viele Intellektuelle und Künstler allerdings nicht abschrecken. Nach 1880 intensivierte sich in Paris die Rezeption und kreative Aneignung von Wagners Werk. Einen Höhepunkt des Wagnerismus brachte das Jahr 1885 mit dem Erscheinen der Zeitschrift Revue Wagnérienne: In drei Jahrgängen wurde sie zum Forum für Wagners Kunsttheorien – aber auch zum Forum für kunstästhetische Ideen der Pariser Autoren jeglicher Couleur: Die Theorien Wagners regten zu neuen Konzeptionen an – Wagner wurde zum Ferment des kulturellen Diskurses.

Nach 1900 ebbte der Wagnerismus allmählich ab. Mit Debussys Pelléas et Mélisande war 1902 ein Werk erschienen, das als Gegenposition („Anti-Tristan“) verstanden wurde, auch wenn in ihm noch viel Wagner steckt. Wie schwer und schmerzlich die Ablösung war, musste sich nicht nur Ernest Chausson bei seinem Bemühen eingestehen, sich zu entwagnern (»déwagnériser«), sondern auch Debussy bei seiner Arbeit am Pelléas. In einem Moment, in dem er glaubte, ganz bei sich zu sein, bemerkte er plötzlich, wie „das Phantom des alten Klingsor, alias Richard Wagner, hinter der Biegung eines Taktes auftauchte, so dass ich alles zerrissen habe.“

Pèlerinage à Bayreuth

Um ein authentisches Bild von Wagners Musikdramen zu erhalten, pilgerte man zunächst nach München und in andere deutsche Städte, auch nach Brüssel und London. Ab 1876 kam mit der Eröffnung der Festspiele die Pèlerinage nach Bayreuth hinzu, wo man den Klang der Musik authentisch erleben konnte. Fast „alle“ waren sie da: Saint-Saëns, Fauré, Debussy, Duparc, Chausson, Chabrier, Messager, d’Indy, Jules Massenet (inkognito), Magnard, Dukas usw. Eigentlich fehlten von den großen Komponisten nur Franck, Gounod und Ambroise Thomas. – Die Pèlerinage hatte übrigens auch eine touristische Seite: Man reiste mit frisch gedruckten Reiseführern, um das „romantische“ Deutschland kennenzulernen.

Die Wirkung von Wagners Musik ist in Briefen der französischen Komponisten an die Zurückgebliebenen in Paris belegt. Man war tief bewegt («ému», wie es bei Duparc hieß) und bekannte, wie überwältigt man von den Aufführungen im Festspielhaus war. D’Indy und Chabrier schämten sich ihrer Tränen nicht. D’Indy schrieb: „Die letzte Szene der Götterdämmerung übersteigt alles, was man sich vorstellen kann. Man wird überfahren, zerschlagen ob dieser Größe und ich habe geweint, ja, wirklich geweint beim Tode Siegfrieds.“ Großen Eindruck machte dann später (ab 1882) vor allem der Parsifal, der von vielen als eine spirituelle Erfahrung beschrieben wurde. 

Der psychische Druck durch das übermächtige Erlebnis suchte auch nach anderen Ventilen, und ein probates Mittel der Bewältigung ist die Persiflage. Dafür gibt es ein schönes Beispiel mit dem Klavierstück: Souvenirs de Bayreuth. Fantaisie en forme de quadrille sur les thèmes favoris de la Tetralogie de Richard Wagner pour piano à 4 mains von Gabriel Fauré und André Messager, 1888. Die hehren Leitmotive (Walkürenritt, Feuerzauber, Siegfrieds Hornmotiv und andere) werden durch das Zurückstutzen auf eine quadratische Syntax sowie durch banale Schlusswendungen profanisiert und verulkt – so befreit man sich von einem übermächtigen Vater. 

Musikdarbietung: Gabriel Fauré / André Messager: Souvenirs de Bayreuth

III. Die Mélodie im Fin de siècle und der Symbolismus

In diesem Teil werden wir uns auf zwei Komponisten beschränken: Fauré und Debussy.

1. Gabriel Fauré

Auch Fauré war mehrmals in Bayreuth, ebenso in München und Köln. Nach dem Parsifal in Bayeuth, 1884, verließ auch er das Theater in (Zitat) „überschäumendem Enthusiasmus“. In seiner Musik hielt er jedoch größere Distanz zu Wagner als Duparc: Zwar verwendete er (wie wir gehört haben) Leitmotive und (wie wir noch sehen werden) weitere Techniken Wagners, seiner Musiksprache hört man den Einfluss Wagners jedoch nicht so stark an. Melodik und Harmonik klingen meist ausgesprochen „französisch“. 

Lieder nehmen in Faurés Werk einen großen Raum ein: Er hat über 100 Klavierlieder geschaffen. Zwei davon werden wir hören. Das erste Lied, Clair de lune, hat den typischen Fauréschen „Tonfall“. Dieser beruht auf einer weichen, mild dissonanten Harmonik mit modalen Anklängen. So kommen z.B. in den ersten beiden Takten des Vorspiels dorische Sext und Moll-Dominante vor. (Dorisch ist eine der alten Kirchentonarten; Molldominaten besitzen keinen Leitton und klingen daher modal; Leittöne aber sind für harmonische Tonalität von Bach bis Wagner konstitutiv).

Klavierdarbietung: Fauré: Clair de lune, Takt 1 und 2

Im Verhältnis von Singstimme und Klavier ist in diesem Lied das Instrument dominierend: Der Klavierpart ist fast ein eigenständiges Klavierstück. Er hat eine stabile „quadratische Syntax“ (2+2=4/+4=8 Takte) und wird beherrscht von dem eben vorgespielten 2-taktigen Motiv, das insgesamt 11mal erklingt. Dabei entsteht eine verträumte Stimmung – fast möchte man sagen, der Eindruck eines in sich gekehrten „Singsangs“. 

Anders als die „quadratische“, sprich liedhafte Klavierstimme ist die Singstimme unregelmäßig, z.T. aus 3 und 5 Takten gebaut. Die Singstimme erscheint so, als ob sie in das stabile, strukturgebende Klaviergerüst „eingehängt“ wäre. Das entspricht genau der Satzbildung in Wagners Musikdramen.

Als zweites hören Sie das großartige Lied N’est-ce pas aus dem Zyklus La Bonne Chanson auf Gedichte von Paul Verlaine. In diesem Zyklus, den man als Höhepunkt von Faurés Liedschaffen bezeichnen kann, zeigt sich ein neuer Stil mit einem für die Ästhetik des Fin de siècle typischen Merkmal. Er ist gekennzeichnet durch großes Raffinement der Mittel, ja, durch eine fast exzessiv wirkende Suche nach der Nuance – darin trifft sich Fauré mit der Ästhetik des Subtilen im Symbolismus. 

Dominierendes Gestaltungsmittel bei Fauré ist die raffinierte, nuancenreiche Harmonik. Sie ist gekennzeichnet durch abrupte, ruckartige Richtungswechsel der Tonarten, (so als ob man mal in eine Richtung geht, dann plötzlich nach wenigen Takten scheinbar in eine andere usw, um schließlich in die ursprüngliche zurückzukehren). Durch diese „Rückungen“ wird der tonal-funktionale Bezug der Akkorde auf die Tonart aufgehoben und die Aufmerksamkeit ganz auf den „emotionalen Farbwert“ der harmonischen Progression gelenkt. Viele Kollegen Faurés empfanden diese Harmonik als unzusammenhängend. Saint-Saëns soll sogar geäußert haben, als er La Bonne Chanson zum ersten Mal hörte, »Fauré ist vollkommen verrückt geworden!« – ein Beispiel auch dafür, dass zeitgenössische Ohren, auch die von großen Komponisten, gefangen in ihrer Zeit, anders hören als die unseren.

Durch das Abrupte der Harmoniewechsel unterscheidet sich Fauré übrigens von Wagner. Auch bei ihm gibt häufige modulatorische Richtungswechsel – sie sind aber vermittelt durch eine leittönige Chromatik: Dadurch wirkt Wagners Harmonik stets „logisch“.

Was aber ist dann an Faurés N’est-ce pas überhaupt wagnerisch? 

(1) Zunächst der Gebrauch von Leitmotiven. Eines der Leitmotive prägt sich hier stark ein: eine expressive 2-taktige Moll-Melodie in der warmen Mittellage des Klaviers, die erstmals zu den Worten: »Isolés dans l’amour« erklingt und als „Liebesmotiv“ zu verstehen ist.

Klavierdarbietung: Fauré: N’est-ce pas, T. 14f.

(2) Wagnerisch ist vor allem aber der thematisch durchgestaltete polyphone Klaviersatz, der die Komplexität von Wagners symphonischer „Orchestermelodie“ zum Vorbild hat. Höchst kunstvoll ist dabei das Verhältnis von Orchestermelodie und Singstimme: Teils gehen sie getrennt, teils vereinigen sie sich, um dann wieder eigene Wege zu gehen. Dieses labile Verhältnis von Haupt- und Nebenstimme sowie von Leitmotiven und freien Passagen kennzeichnet auch Wagners musikdramatischen Stil. 

Generell lässt sich sagen, dass es häufig derartige strukturelle Momente sind (und weniger vordergründige konkrete Motivzitate), die von Wagner beeinflusst wurden.– In der Orchestermusik kommen außerdem Merkmale der Instrumentation hinzu, die wagnerisch klingen. Das gilt (nebenbei bemerkt) beispielweise für manche der blechgesättigten Passagen bei César Franck.

Lieddarbietungen: G. Fauré:    Clair de lune  und  N’est-ce pas

2. Claude Debussy

Auch dem nächsten Lied liegt ein Gedicht von Paul Verlaine zugrunde, das berühmte Il pleure dans mon cœur. Es stammt aus der Sammlung mit dem programmatischen Titel Romances sans Paroles von 1873 (Romanzen ohne Worte) In dieser Sammlung wandte Verlaine erstmals eine Theorie an, die er in dem Gedicht Art poétique (1874) dargelegt hat: Der Vers soll Musik sein, eine Harmonie von Tönen, ein flüchtiger Rausch, der die Grenzen der Form verwischt und die Farben nur noch als Nuancen wiedergibt – so VerlaineDas heißt: Die Sprachlogik wird aufgehoben durch „musikalische“ Assoziationen, die vom Sprachklang hervorgerufen werden. Das im Schwebezustand zwischen Begriffs-Logik und „Musik der Sprachlaute“ oszillierende Gedicht wird zum Zeichen einer begrifflich nicht fassbaren Welt. Formen und Farben sind nur noch ein flüchtiger Rausch – die Nähe zum Impressionismus in Malerei und Musik liegt auf der Hand. 

Das Gedicht Il pleure dans mon cœur lässt sich als „Klangfarbenmelodie“ interpretieren (der Begriff stammt von Arnold Schönberg), u. z. als eine „Melodie“  aus Vokalfarben. In den ersten beiden Zeilen der 1. Strophe ist es der melodische Bogen vom dunklen [ö/œ] (geschlossen-offen) zu den hellen Farben [ü/i]: 

Il pleure dans mon coeur
Comme il pleut sur la ville ;

in den folgenden Zeilen ist es umgekehrt: 2x die Klangabdunkelung [i – e –ä]
zu den [œ – o]-Klängen (vor allem in der letzten Zeile):

Quelle est cette langueur
Qui pénètre mon coeur ?

Das Gedicht ist Melancholie pur: das Einfühlen in den Zustand einer tiefen Traurigkeit – begleitet durch die deprimierende Wirkung des leise fallenden Regens (Debussys Klavierfigur malt ein permanentes sanftes Rauschen). Diese Stimmung wird in der 3. Strophe durch den Einwurf quoi! Nulle trahison? jäh unterbrochen. Die 4. Strophe bringt darauf die deprimierende Erklärung für die Ausweglosigkeit der Trauer: sie ist ohne Grund. 

Die symbolistische Sprache hat ihre Analogie in der musikalischen Harmonik: In dieser treten bei Debussy (wie schon bei Fauré) die „farblichen“ Reize der Akkordwechsel in den Vordergrund (wenn z.B. auf einen C-Dur- ein tonal fremder es-Moll-Akkord folgt). Aber auch die „Farbpalette“ der Akkordformen wird von Debussy weiterentwickelt (z. B. durch die Staffelung von Terzen übereinander). 

„Farbe“ manifestiert sich in dem Lied aber noch in einer weiteren Dimension: dem eigentlichen Moment der musikalischen „Klangfarbe“ (gemeint ist z.B. die einer Oboe oder Klarinette oder eines Sprachlauts). Hier ist es der volle Ambitus der Klaviatur, dem Debussy ein Spektrum von „orchestralen“ Klangschattierungen entlockt.

Formal ist das Lied jedoch überraschend konservativ, liedhaft: Es besitzt ein ruhiges melodisches Hauptthema, das im Vorspiel vorgestellt wird. Später wird es von der Stimme aufgegriffen; und es markiert auch die Anfänge der einzelnen Strophen. Außer diesem Thema gibt es weitere Motive, die den Satz quasi-polyphon durchziehen und durch ihre Kombination ambivalente Gefühlsstimmungen hervorrufen (vergleichbar mit den Wirkungen von Wagners polyphoner Leitmotivkombinatorik). 

In partiellem Kontrast dazu steht das zweite Lied von Debussy mit dem Titel Romance. Hier ist vor allem die Behandlung der Singstimme anders und tendiert zu einem rezitierenden Stil (schnelle Notenwerte, Tonwiederholungen). Sie nähert sich dadurch der Behandlung in Wagners Musikdramen oder auch in Debussys Pelléas et Mélisande an. 

Inhaltlich drückt das Gedicht die Ratlosigkeit über eine sich verflüchtigende Liebe aus. Diese Stimmung wird eingefangen durch eine Musik, die einerseits – wie die Gedanken des lyrischen Ichs – um ein Motiv, eine Art Idée fixe,kreist, das sich durch das ganze Lied zieht – zumeist im Klavier, aber auch in der Singstimme. Andererseits hat diese Stimmung der Ratlosigkeit ihre Entsprechung in einer fragenden Musik, die harmonisch permanent in der Schwebe bleibt und zunächst zu keiner Verfestigung gelangt. Erst im Schlussakkord kommt sie zu einem Abschluss. (Schumann hat mit dem offenen Schluss seines zu Anfang gehörten Liedes freilich gezeigt, dass man auch auf die Formalität eines Tonika-Schlusses verzichten kann.)

Lieddarbietungen: C. Debussy  Il pleure dans mon cœur und Romance                    

Zusammenfassung

Wir haben am Anfang an einem Beispiel eines deutschen und französischen Liedes (Berlioz und Schumann) Unterschiede zwischen den Musikkulturen aufgezeigt. 
Wir sahen in Wagners Mignonne ein Beispiel für den deutsch-französischen Kulturaustausch: nämlich in der Verbindung von romance-artigem melodischen Gestus und ausgearbeiteter deutscher Kompositionstechnik. Im Folgenden konnten wir beobachten, wie Merkmale von Richard Wagners Stil partiell von der französischen Liedkomposition des Fin de siècle adaptiert wurden. 

Trotz alledem veränderte sich der französische Charakter der Lieder grundsätzlich wenig: Sie bleiben als französische Musik kenntlich. Wie groß der Unterschied zwischen deutscher und französischer Musik sein kann, wird deutlich, wenn wir einmal neben die von Wagner inspirierten französischen Liedkomposition jener Zeit die eines deutschen „Wagnerianers“ wie Richard Strauss stellen: da liegen tatsächlich Welten dazwischen!

Lieddarbietung: R. Strauss:  Allerseelen (1885)